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Leichenroulette - Roman

Leichenroulette - Roman

Titel: Leichenroulette - Roman
Autoren: Random House
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des als Angeber bekannten Wildlings gedacht hatte, in die Fluten, um den offensichtlich Ertrinkenden zu retten. Mehrmals tauchte er unter, bis es ihm gelang, den Buben, dessen Bein sich, wie wir später erfuhren, in Schlingpflanzen verfangen hatte, an die Oberfläche zu ziehen. Im Kreis neugieriger Badegäste erkämpfte ich mir einen Platz in der ersten Reihe und erlebte aus nächster Nähe, wie der rasch herbeigerufene Gemeindearzt an dem regungslos auf der Wiese liegenden Buben energische Wiederbelebungsversuche durchführte. »Er war lang unter Wasser. Wenn es nur nicht zu spät ist«, meinte er pessimistisch. Zuerst legte er ihn auf die rechte Seite, dann drückte er mit festen, rhythmischen Bewegungen gegen seinen Brustkorb, bis Wasser aus seinem Mund quoll. Mir wurde fast übel. Peter war doch nicht etwa tot? Ich hatte ihn doch nur schrecken wollen. Obwohl mir allmählich dämmerte, dass er furchtbare Rache nehmen würde, war ich doch froh, dass er nach ein paar Minuten erste Lebenszeichen von sich gab, zuckte und zu atmen begann. Er blieb jedoch ohne Bewusstsein und hielt die Augen geschlossen, bis ihn ein Rettungswagen mit eingeschaltetem Blaulicht in rasender Fahrt ins Krankenhaus fuhr. Die Ärzte dort würden ihm schon helfen! Ich schob die momentanen Skrupel und aufkeimende Gewissensbisse zur Seite. Bald gewannen andere Gefühle die Oberhand: Was für ein aufregender Tag! Und welch interessantes Erlebnis! Spannend wie ein Abenteuerfilm.
    Die Weise, in der die Bewohner unserer kleinen Stadt Anteil am Schicksal des Scheusals nahmen, überraschte mich. Sie schien mir stark übertrieben, grenzte fast an Hysterie. Man überbot sich in Mitleidsbekundungen, als die Folgen des – vermeintlichen – Unfalls feststanden und man erfuhr, dass der »Sonnenschein«, wie Frau Hahn ihren missratenen Sprössling zu rufen pflegte, zwar mit dem Leben davonkommen würde, aufgrund des erlittenen Sauerstoffmangels aber schwere körperliche und geistige Schäden davongetragen hatte. Angesteckt von der allgemeinen Stimmung, suchte ich mich vor mir selbst zu rechtfertigen: Warum ist der Blöde auch ins tiefe Wasser, wenn er net schwimmen kann? Hab ich g’wusst, dass es so ausgeht?
    Beinahe hätte ich meinen Eltern alles gestanden, doch eingedenk ihrer häufigen Ermahnung: »Reden ist Silber, Schweigen ist Gold!« hielt ich den Mund. Wenn Frau Hahn meinen Ex-Rivalen voll resignierter Traurigkeit im Rollstuhl durch die Straßen schob und sein Kopf mit leerem Blick lallend zur Seite sank, grüßte ich besonders freundlich und höflich. Nicht der Schatten eines Verdachts fiel auf mich, und so wurde mein wiederholtes Angebot, den armen Peter spazieren zu fahren, gerne angenommen. Für diese gute Tat erntete ich viel Lob. Manchmal suchten wir den abschüssigen und einsamen Teil der Stadtpromenade auf. Mit »Und jetzt ein kleines Spiel« löste ich, wenn wir allein waren, die Bremsen seines Wägelchens. Lang sam rollte es an, beschleunigte rasch, gewann an Fahrt und schoss auf den Stadtgraben zu. Knapp vor dem Abgrund brachte ich das Gefährt zum Stehen. Trotz seiner Behinderung spürte Peter die Gefahr, er wurde unruhig, wimmerte und gab Schreckenslaute von sich. Es war zum Lachen!
    Die meisten Eltern zogen aus dem schrecklichen Vorfall Konsequenzen. Sie vernichteten die gefährlichen porösen Autoschläuche, in denen sie die Ursache des Unglücks wähnten. Bald sah man im Strandbad viele stolze Besitzer neuer, bunter Schwimmreifen. Das hatten sie nur mir zu verdanken!
    Immer wenn sich das Schuljahr dem Ende näherte, wurden alle Mädchen und Buben der Volksschule – in unserer Stadt lebten nur Katholiken – in gebührender Weise auf die Beichte eingestimmt. Sollten wir doch, gereinigt von allen lässlichen und schweren Sünden, beim feierlichen Schlussgottesdienst in Anwesenheit der gesamten Gemeinde die heilige Kommunion emp fangen. Meist fiel uns bei der Vorbereitung dieses großen Ereignisses nichts ein außer »Ich habe gelogen« und »Ich habe Vater und Mutter nicht geehrt«, wobei wir unter Letzterem »Ich bin frech gewesen« verstanden. Dankbar nahmen wir daher die Instruktionen des Herrn Religionslehrers entgegen. Mit seiner Hilfe setzten wir vor dem Gang in die Pfarrkirche auch das uns vollkommen mysteriöse »Ich habe unkeusch gedacht« auf unsere Merkzettel.
    Mir selbst war in diesem Jahr nur allzu bewusst, dass ich die Sache mit Hahn Peter erwähnen oder zumindest hätte andeuten müssen. Mir standen jedoch die
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