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Liebesnaehe

Liebesnaehe

Titel: Liebesnaehe
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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beginnt, einen Pfirsich in mundgerechte Stücke zu schneiden. Sie schneidet die Stücke zurecht und isst sie dann langsam auf, während sie hinaus auf die mächtigen grauen Rücken der nahen Berge schaut.

    Sie ist etwa eine halbe Stunde in ihrem Zimmer, dann wählt sie die Nummer der hoteleigenen Buchhandlung. Als sie die Stimme einer älteren Frau hört, sagt sie:

    – Guten Morgen … – ja, ich bin’s, Jule, ich bin gerade angekommen. Ich packe meine Sachen aus, nehme ein Bad und komme dann bei Dir vorbei. Ich freue mich.

3
    ALS ER das Gepäck ausgepackt und alles in den Schränken und im Badezimmer untergebracht hat, wirft er noch einen letzten Blick auf den großen Schreibtisch. Der Laptop ist geöffnet und angeschlossen, steht aber ganz am linken Rand, während sich in der Mitte des Tisches ein Stoß weißer Blätter befindet, neben dem unzählige Stifte und mehrere Füller in Reih und Glied liegen. Am anderen Rand des Tisches aber sind Bücher und einige schwarze Notizkladden untergebracht, er schaut sich das alles an, als hätte nicht er selbst dieses Bild komponiert, sondern ein Fremder, dessen Arbeit er begutachten müsse. Schließlich steckt er eines der Notizhefte in die rechte Tasche seiner Jacke und nimmt noch zwei Stifte zum Schreiben mit: einen Bleistift und einen Kugelschreiber. Dann verlässt er sein Zimmer und geht hinunter ins Erdgeschoß, wo er sich auf die Suche nach der Buchhandlung begibt.

    Wie schon bei seinem ersten Aufenthalt in diesem Hotel irrt er zunächst wieder ein wenig herum, weil er den Plan der Anlage noch nicht im Kopf hat. Das Ganze hier hat etwas Labyrinthisches, in dem er sich erst wieder zurechtfindet,
wenn er alle Stockwerke einmal durchlaufen hat. Diesmal kommt er in der Lobby des Erdgeschosses an, wo die jungen Frauen an der Rezeption ihn etwas ratlos anstarren, weil er dort stehen bleibt und sich umschaut. Rasch tut er so, als betrachte er eines der Bilder an den Wänden, dann geht er vorsichtig weiter um eine Ecke und trottet dann leicht verlegen den Gang entlang. Er weiß wahrhaftig nicht, wo er jetzt landen wird, erst als er erneut um eine Ecke biegt, begreift er, dass er den richtigen, direkten Weg gewählt hat, denn nun sieht er von ferne bereits die großen Glasscheiben der Buchhandlung, die in einem der langen Hotelflure untergebracht ist.
    Er geht langsamer und bleibt dann einen Moment stehen, er genießt es, Katharina, die Buchhändlerin, wiederzusehen, wie sie da in ihrem Lehnstuhl in einer eher dunkleren Ecke der Buchhandlung neben einem kreisrunden Tisch unter einer an einem Regal angebrachten Leselampe sitzt. Sie trägt ein langes, dunkelrotes Kleid, die schwarzen Haare hat sie hochgebunden, zum Lesen benutzt sie eine kleine, ebenfalls schwarze Brille, aber sie ist so in ihr Buch vertieft, dass sie nicht einmal aufschaut, als er den Raum betritt.
    Er sagt zunächst nichts, er bleibt im Eingang stehen und schaut sie weiter an, sie ist eine schöne, bereits ältere Frau mit einem markanten, schmalen Gesicht. An der rechten Hand trägt sie einen Goldring, und auf dem kreisrunden Tisch steht eine Schale mit Tee, den sie gerade erst eingegossen zu haben scheint, denn auf der goldbraunen Flüssigkeit dreht sich noch eine kleine Dampfwolke.

    Schließlich löst er sich vom Eingang und geht auf sie zu. Er begrüßt sie, da schaut sie auf und lächelt sofort. Sie legt das Buch beiseite, erhebt sich und kommt ihm entgegen, dann umarmen sie sich und verweilen in dieser Umarmung ein paar Sekunden.
    – Ich habe uns einen Tee gekocht, sagt sie und lächelt weiter, ihm geht die herzliche Begrüßung etwas nach, deshalb antwortet er nicht gleich, vielmehr steht er da wie ein Kind, dem man erst erklären muss, was es als Nächstes zu tun hat.
    – Was ist? Warum sagst Du denn nichts? fragt sie, er schluckt einen Moment und beginnt dann endlich zu reden. Er erzählt etwas umständlich von der Anfahrt und dass er sich reichlich Arbeit mitgebracht habe, sie nickt und holt eine zweite Schale, die sie mit dem noch heißen Tee füllt. Dann setzen sie sich beide an den kreisrunden Tisch und trinken, während er nun etwas freier zu sprechen beginnt.

    Sie unterbricht ihn nicht, sie hört ihm eine Weile lang zu, dann erzählt sie von der Buchhandlung, sie arbeitet erst seit Kurzem in diesem Hotel, vorher hatte sie eine eigene Buchhandlung in München.
    – Hier ist es natürlich viel ruhiger, sagt sie, und hier kann ich mir jetzt endlich auch ein viel kleineres Sortiment
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