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Liebesnaehe

Liebesnaehe

Titel: Liebesnaehe
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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darauf, den Weg aus der kleinen Ortschaft um den entlegenen Bahnhof herum hinter sich zu bringen. Ein paar wenige Abbiegungen, noch drei oder vier Straßen, dann verschwindet der Ort auch schon, und sie fahren nun auf dem hellgrauen Asphalt einer Landstraße ohne Mittelstreifen, auf der sie in kaum einer Viertelstunde das Hotel erreichen werden.
    Sie stellt ein paar höfliche Fragen, sie erkundigt sich nach dem Befinden des Fahrers, nach seiner Frau und dem vor zwei Jahren geborenen Kind. Der Fahrer antwortet langsam und spricht davon, was er Tag für Tag mit dem Kind anstellt, er spricht sehr begeistert und so, als dächte er an nichts anderes mehr als an diese Tochter, seine Frau erwähnt er kaum, sie kommt nur noch zusammen mit dem Kind vor, als lenkte und dirigierte das Kind alle Bewegungen der Eltern von früh bis spät.
    Diesmal fällt ihr dieses Sprechen von den Vorlieben und Leistungen des Kindes auf, es erscheint ihr beinahe etwas manisch und zu viel, sie sagt das aber nicht, sondern erkundigt sich pflichtbewusst weiter. Der Fahrer hört daraufhin nicht mehr auf, sondern schwelgt in seiner Vaterliebe und in Erzählungen darüber, wie er das Kind Tag für Tag mit einer anderen Kleinigkeit, die er aus dem Hotel mitbringt, überrascht.

    Nach einigen Minuten hat sie dann aber endgültig genug von diesen Berichten, sie bittet den Fahrer, die Fenster herunterzulassen und langsamer zu fahren, dann holt sie das Aufnahmegerät aus ihrer Aktentasche und postiert es
auf ihren Knien. Sie überzeugt sich, dass es funktioniert, dann hält sie das Gerät bereit und sagt dem Fahrer, dass er nun ganz langsam fahren und für einige Minuten nicht sprechen solle, weil sie diese Fahrt aufnehmen wolle. Der Fahrer kennt das schon, sie hat ihm einmal ausführlich erzählt, dass sie immer wieder ihre Umgebung aufnimmt, sie hält das Mikrophon einfach in das Spätsommerlicht und fängt dieses schwache Rauschen und Summen ein. Kurze Zeit später bittet sie ihn, am Straßenrand zu halten. Als der Wagen stehen bleibt, ist es vollkommen still, nicht einmal der Wind ist zu hören.

    Sie schließt die Augen und horcht in diese Stille hinein, das Aufzeichnungsgerät läuft, und der Fahrer sitzt unbeweglich und etwas verkrampft auf seinem Sitz, als versuchte er, sich unsichtbar zu machen. Eine schwache Kühle legt sich auf ihr Gesicht, sie hat die Augen weiter geschlossen, und obwohl anscheinend nichts zu hören ist, glaubt sie doch, etwas zu hören: ein Ausatmen, ein kaum merkliches Strömen, gleichmäßig und konstant, etwas Dunkles, Tiefes. Kurz darauf aber ist auch noch etwas anderes da, ein Flirren, hell, sanft an- und abschwellend, als hätten die Spätsommerstrahlen der Sonne sich in einen Cluster aus lauter dicht nebeneinanderliegenden Tönen verwandelt.

    Sie weiß, dass sie noch viel mehr hören würde, wenn sie sich jetzt Zeit dafür nehmen würde, sie kann sich regelrecht in die Klangräume ihrer Umgebung vertiefen und von Minute zu Minute mehr und mehr hören, oft nimmt sie eine ganze Palette von Klangfarben wahr, und diese
Klangfarben sind auch bereits orchestriert, als wäre zum Beispiel das helle Flirren ein Flirren von Querflöten und als wäre der dunklere, tiefere Klang ein Rumoren von Tuben.
    Ihre Anspannung ist so groß, dass sie sich unmerklich mit der Zunge über die Lippen fährt. Als sie aber die Zunge spürt, öffnet sie die Augen und schaltet das Aufnahmegerät gleich wieder aus. Sie bittet den Fahrer weiterzufahren, und damit sie sich nicht weitere Familiengeschichten anhören muss, erzählt sie von ihren letzten Tagen in München und davon, wie sehr sie sich nach dem Aufenthalt in dieser Vorgebirgslandschaft gesehnt habe. Manchmal, erzählt sie, sei während eines Einkaufs plötzlich das Bild des Schlosses da gewesen, wie eine Erscheinung, und einmal, als ihr das Herumlaufen durch die Stadt am frühen Abend endgültig zu viel gewesen sei, habe sie bloß die Augen schließen müssen und gleich wieder dieses Bild gesehen, die geduckten Flügel des Baus und den dahinter aufragenden Turm mit der grünen Spitze.

    Sie fahren jetzt etwas bergab, der Fahrer bremst ein wenig, dann aber fährt er langsamer und sagt auch noch, dass er langsamer fahre, denn jetzt ist das eben noch beschworene Bild des Schlosses auch wirklich da, und sie sagt nichts mehr, sondern sie schaut nur noch starr: Die grauen Schieferdächer der beiden Hotelflügel mit den vielen kleinen Mansardenluken liegen im Licht, und die hellgrüne Turmspitze
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