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Liebesnaehe

Liebesnaehe

Titel: Liebesnaehe
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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    ER FÄHRT die schmale, hellgraue Straße entlang, die jetzt von dunklen, dichten Nadelwäldern gesäumt wird, die wenigen, vereinzelten Wolken hoch oben setzen sich scharf vom tiefen Himmelsblau ab, er fährt immer langsamer, diese stille Vorgebirgslandschaft hat etwas wohltuend Einsames. Die Straße hat keinen Mittelstreifen, und ihr heller Asphalt wirkt wie improvisiert oder bloß wie eine dünne Erdschicht, die den Weg bahnt und sich kaum abhebt von den noch schmaleren Seitenstreifen. Er lässt die Fenster des Wagens herunter, der Wagen rollt aus und kommt dann zum Stehen.
    Er stellt den Motor aber nicht ab, weil er die Fahrt nicht unterbrechen, sondern nur für einen Moment die Waldluft atmen und einen Schluck Wasser trinken will. Seit Tagen hat er sich auf diese Ankunft gefreut, und nun ist diese Freude sogar regelrecht spürbar, denn sein Herz klopft und reagiert damit instinktiv auf all diese starken Bilder.
    Er trinkt Wasser aus einer Sprudelflasche, er schüttet eine kleine Ladung davon in die hohle Hand und fährt sich mit ihr durchs Gesicht, diese Frische passt genau zu der Frische der Landschaft, die an diesem Spätsommermorgen etwas Hellwaches und Aufgekratztes hat, als
forderte sie einen auf, sofort aufzubrechen und auf einer langen Wanderung dem nächstbesten Pfad hinauf in die Berge zu folgen.
    Er atmet tief durch, dann fährt er weiter, er lässt den Wagen bei sehr niedriger Geschwindigkeit dahinrollen, als fände er ganz alleine den Weg. Die Bäume gleiten vorbei wie ein scheues Spalier und treten dann immer weiter zurück, die Szene öffnet sich, während die Straße in leichten Schwingungen abschüssig ins Tal führt.
    Dann, plötzlich, ist der Blick frei, und er sieht die ganze Weite des Raums: Die hellgrünen, gemähten, welligen Wiesen, den sich anschließenden Ringsaum der dunkleren Nadelwälder und das Schiefergrau der hohen Berge, über deren Spitzen einige kleine Wolken verstreut sind.
    In der Mitte dieses Bildes aber lagert das so genannte Schloss, in dem ein großes Hotel untergebracht ist. Seine Flügel kauern sich auf eine kleine, unmerkliche Erhebung, und hinter ihnen ragt ein weißer, mächtiger Turm mit einer hellgrünen Spitze wie ein markantes Zeichen in die Höhe. Er hält noch einmal an und nimmt einen weiteren Schluck Wasser, jetzt ist er endgültig den üblichen Tagesgeschäften entkommen, ja, jetzt wird er sich für einige Tage in diese Stille zurückziehen, um mit nur sehr wenigen Menschen ein Wort zu wechseln.

    Vor lauter Vorfreude schlägt er mit der rechten Hand auf das Lenkrad und stellt das Radio an, als bräuchte diese Freude nun auch einen hörbaren Ausdruck, etwas Musik, am besten wäre so etwas wie hohe Oper, eine starke Arie oder ein guter Song, der den Raum noch weiter öffnet.

    Er sucht kurz danach, gibt dann aber schnell auf, und so summt er, statt Radio zu hören, lieber selbst vor sich hin, er summt etwas bei herabgelassenen Fenstern und fährt mit dem Wagen jetzt weiter die hellgraue Straße auf das Schloss zu, in dem er vor etwa einem Monat ein Zimmer gebucht hat.
    Schließlich biegt er nach links ab und fährt dann die schmale Auffahrt hinauf, die aussieht wie eine Allee mit lauter kleinen, in die Landschaft getupften Pappeln. Vor dem Hoteleingang parkt er den Wagen an diesem sonnigen, beinahe strahlenden Tag, den er sich genau so erträumt hat: ein Tag in der Mitte der Woche, an dem nicht allzu viele Hotelgäste an- oder abreisen, ein günstiger Tag für eine unauffällige Ankunft.

    Kaum dass er ausgestiegen ist, kommt auch schon ein Hotelangestellter nach draußen, um sich nach seinem Gepäck zu erkundigen. Er öffnet die Heckklappe des Wagens und zeigt dem Mann seinen Koffer, die Reisetasche und die schwere Kiste mit den Büchern und dem Arbeitsgerät. Der Mann beginnt sofort, alles hineinzutragen, während er selbst das Hotel betritt und nach den ersten Schritten kurz stehen bleibt.
    Ein Geruch von reifen Äpfeln, einem schwach flackernden Feuer und etwas Zimt, zu dieser Jahreszeit ist oft genau dieser Geruch da, als wäre der ganze Bau mit einem Herbstduft geschwängert und als wäre die Küche unablässig dabei, die reifen Äpfel einzukochen oder einen Most herzustellen, den man dann zu einem frischen Zwiebelkuchen trinkt. Äpfel, Zwiebelkuchen, Steinpilze – mit dem Betreten des großen Foyers hat er diese Herbst-Palette
vor Augen, er geht jetzt gut gelaunt auf die Rezeption zu und begrüßt die jungen Frauen, die ihn anlächeln, als hätten
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