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Liebesdienst

Liebesdienst

Titel: Liebesdienst
Autoren: Howard Jacobson
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wurde ein Sitz frei, und ich schnappte ihn mir. Als ich mich umschaute, sah ich, dass ich neben Marius saß.
    Er trug noch immer die Kleidung von der Beerdigung. Ich meinte sogar, Lehmspuren vom Friedhof an seinen Schuhen zu erkennen, selbst an seinem Jackett. Aber das war vermutlich Einbildung. Ich schielte ein paar Mal zu ihm hinüber und hoffte auf ein angedeutetes Lächeln, die Aufforderung zu einem Gespräch. Ich war neugierig, warum er auf der Beerdigung gewesen und welcher Art seine Beziehung zu dem armen Jim Hanley und seiner Witwe war. Wenn wir mit demselben Zug nach London fuhren, würde er mir vielleicht von seiner Neigung erzählen, minderjährige Mädchen aufzugabeln und dann fallen zu lassen. Mir den Reiz des Sadismus erläutern.
    Â»Ein wunderschöner Nachmittag«, sagte ich schließlich in der Einsicht, dass ich ewig warten konnte, bis er den Anfang machte.
    Er beehrte mich mit einem knappen Blick, so wie ein wildes Tier einen Menschen ansieht, vor dem es keine Angst hat, den es aber auch nicht fressen will. Es war offensichtlich, dass er mich sonst wohin wünschte, und ebenso offensichtlich, dass er mich nicht von der Trauerfeier wiedererkannte.
    Ich warf den Kopf in den Nacken und blinzelte in die Sonne, um es Marius leicht zu machen, mir nicht zu antworten, wenn er nicht wollte. Soll mir keiner nachsagen, ich sei kein entgegenkommender Mensch.
    Er wollte nicht unhöflich sein und sah auf die Uhr.
    Â»Ach ja, die Zeit, mein Herr«, sagte er.
    Ich wusste nicht, was er meinte. War es eine Frage? Überlegte er, ob seine Uhr nachging? »Was ist mit der Zeit?«, fragte ich.
    Â»Sie ist der Grund, warum man lieber woanders wäre. Hat nix mit’m Wetter zu tun.« Wieder sah er auf die Uhr. »Man wittert die Ferne. Vier Uhr hat diese Wirkung.«
    Der leichte Akzent erstaunte mich. Ich meine den Akzent unter dem aufgesetzten Cockney oder was er sonst imitieren wollte. Nicht reiner West Midlands, aber so ungefähr. Ich hätte nicht gedacht, dass er einen Akzent hat. Das enttäuschte mich. Ich hätte ihn mir unverdorbener gewünscht. Wie gesagt, ich betrachtete ihn aus pornografischer Sicht, und die Pornografie ist ein heikles Medium. Sie gestattet kein fremdes Beiwerk und keinen Blödsinn, sondern nur den klaren, kühlen, dunklen Strich sexueller Gewalt und die nachfolgende Stille.
    Â»Und nach welchem fernen Ort riecht vier Uhr für Sie?«, fragte ich.
    Â»Ach!«, sagte er, als zielte diese Frage auf den Grund seiner Seele. Er trommelte mit den Fingern auf den Aktenkoffer, der auf seinem Schoß lag, und machte ein Gesicht, als schweifte seine Fantasie durch wirkliche und unwirkliche Welten. Ich wartete und rechnete mit Namen wie Petra oder Heraclea, den Galapagosinseln oder Troja. Pedanten erkenne ich auf den ersten Blick. Überempfindliche kleine Tyrannen neigen zur Pedanterie. Sie lesen die Klassiker, um ihren Weltekel zu lindern.
    Â»Thanatos«, brachte er schließlich hervor und bewies damit, dass ich recht hatte. Er war ein Tyrann.
    Ich verzog das Gesicht. »Thanatos?«
    Â»Wo das liegt, fragen Sie sich? Es ist das griechische Wort für Tod, Kumpel.«
    Ich musste meine ganze Contenance aufbieten, um ihn nicht zu bitten, mich nicht wie eins seiner Schulmädchen zu behandeln. »Ich weiß, was Thanatos heißt«, sagte ich. »Es erstaunt mich nur, dass Sie den Tod als Ort bezeichnen.«
    Â»Was würden Sie denn sagen?«
    Â»Er ist das Ende aller Orte.«
    Er fuhr sich mit der Hand über den Mund, als müsste er sich zwingen, mich nicht auszulachen oder mit den Zähnen zu zerfleischen. Jetzt verstand ich, wie sich die Mädchen gefühlt haben mussten. Es war aufregend, in seiner Nähe zu sein, irgendwie gefährlich, als wäre der Tod, von dem er sprach, eine Größe, über die er Macht besaß. Ich hatte das Gefühl, am Bahnhof von Shrewsbury neben einem Vampir zu sitzen. Es hätte mich nicht gewundert, wenn ich mir den Hals bedeckt hätte.
    Â»Dann würden Sie wohl ebenso prosaisch behaupten«, sagte er mit unverhohlenem Spott, »dass der Tod auch keine Person ist. Aber da sind die Griechen anderer Meinung. Sie haben ihn zu einem schönen Jüngling gemacht, mit einem Schmetterling in der Hand. Und immer da, wo man sich um vier Uhr gerade befindet, hört man die Flügel des Schmetterlings zum letzten Mal schlagen. Das ist – da Sie das Thema nun schon mal
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