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Lieber Feind

Lieber Feind

Titel: Lieber Feind
Autoren: Jean Webster
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vorschlägst. Es wäre Judy und Jervis gegenüber nicht fair. Wenn Du mir die Feststellung erlaubst: sie sind viel längere Jahre meine Freunde als Du, und ich habe nicht die Absicht, auf sie zu pfeifen. Ich kam hierher in einem Geist des — nun, sagen wir, des Abenteuers, und ich muß das Unternehmen nun durchstehen. Du würdest mich nicht wirklich mögen, wenn ich umfallen würde. Das bedeutet aber nicht, daß ich mich auf Lebensdauer verurteile, ich habe die Absicht zurückzutreten, sobald sich die Gelegenheit ergibt. Eigentlich sollte ich mich überhaupt ein wenig geschmeichelt fühlen, weil die Pendletons bereit waren, mir einen so vertrauensvollen Posten anzuvertrauen. Obwohl Du, geschätzter Herr, es nicht ahnst, besitze ich ein beträchtliches Maß administrativer Begabung und mehr gesunden Verstand, als auf der Oberfläche sichtbar wird. Wenn ich mich entschließen würde, meine ganze Seele in dieses Unternehmen zu stecken, würde ich die famoseste Vorsteherin abgeben, die 111 Waisen je besessen haben.
    Du wirst das wahrscheinlich komisch finden. Es ist aber wahr. Judy und Jervis wissen das, und deshalb haben sie mich gebeten, zu kommen. Du siehst also, daß ich sie, nachdem sie soviel Vertrauen in mich gesetzt haben, nicht so glattweg sitzenlassen kann, wie Du vorschlägst. Solange ich hier bin, werde ich genau soviel zustande bringen, wie eine Person in vierundzwanzig Stunden eben fertigbringen kann. Ich werde meiner Nachfolgerin die Sache so übergeben, daß sich alles rasch in der richtigen Weise weiterentwickelt.
    Aber inzwischen bitte ich Dich, mich nicht links liegen zu lassen, in der Meinung, ich sei zu beschäftigt, um Heimweh zu haben; denn das stimmt nicht. Ich wache jeden Morgen auf und starre benommen auf Mrs. Lippetts Tapete mit dem Gefühl, daß alles ein schlechter Traum ist, und ich in Wirklichkeit gar nicht hier bin. Was in aller Welt habe ich mir bloß gedacht, als ich meinem schönen, heiteren Zuhause und den Vergnügungen, auf die ich doch ein Anrecht habe, den Rücken kehrte? Ich stimme oft Deinem Urteil über meine geistige Gesundheit zu.
    Aber warum, wenn ich fragen darf, machst Du so ein Getue? Du würdest mich j a doch auf keinen Fall sehen. Worcester ist von Washington genau so weit entfernt wie das John-Grier-Heim. Und ich will zu Deiner weiteren Beruhigung hinzufügen, daß in der Nähe dieser Anstalt kein Mensch ist, der rotes Haar bewundert, während es deren in Worcester aber mehrere gibt. Also, schwierigster aller Männer, sei bitte wieder friedlich. Ich bin ja nicht nur aus Trotz gegen pich gekommen. Ich wollte im Leben ein Abenteuer haben, und, bei Gott, nun habe ich es!
    Bitte schreibe bald und heitre mich auf.
    In Sack und Asche
    Deine
    Sallie.

John-Grier-Heim,
    24. Februar.
    Liebe Judy,
    sage Du Deinem Jervis, daß ich im Urteilen nicht voreilig bin. Ich habe eine gutherzige, arglose, sonnige Natur, und ich habe jeden gern, fast jeden. Aber den schottischen Doktor kann kein Mensch gern haben. Er lächelt nie.
    Er hat mich heute nachmittag wieder besucht. Ich forderte ihn auf, sich in einen von Mrs. Lippetts knallblauen Stühlen niederzulassen, und setzte mich dann gegenüber, um die Harmonie zu genießen. Er hatte einen senffarbenen Homespun an, mit einer Spur grün und einem Schimmer von gelb im Gewebe, eine „Heidemischung“, die zur Belebung eines öden schottischen Moors erdacht wurde; violette Socken und ein roter Schlips mit Amethystnadel vollendeten das Bild. Wie Du siehst, wird Euer Muster von einem Doktor bei der Hebung des ästhetischen Tones dieser Anstalt nicht sehr hilfreich sein.
    Während der fünfzehn Minuten seines Besuches beschrieb er eindringlich alle Veränderungen, die er in dieser Institution verwirklicht zu sehen wünscht. Er in der Tat! Und was, wenn ich fragen darf, sind dann die Pflichten der Vorsteherin? Ist sie nur eine Strohpuppe, die die Befehle des besuchenden Arztes entgegenzunehmen hat?
    Die Degen der McBride und MacRae sind gezogen!
    Ich bin voller Empörung Deine
    Sallie.

    John-Grier-Heim,
    Montag.
    Lieber Herr Dr. MacRae,
    ich schicke diese Mitteilung durch Sadie Kate, da es unmöglich zu sein scheint, Sie am Telefon zu erreichen. Ist die Person, die sich Mrs. McGurk nennt und die mitten im Satz einhängt, Ihre Haushälterin? Wenn sie oft das Telefon bedient, verstehe ich nicht, daß Ihre Patienten noch patientia bewahren.
    Da Sie heute früh, entgegen unserer Verabredung, nicht gekommen waren, die Anstreicher aber wohl, so
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