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Lieber Feind

Lieber Feind

Titel: Lieber Feind
Autoren: Jean Webster
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Anstalt anwesend waren, fand ich die Gelegenheit günstig, zu betonen, daß alle diese umstürzenden Neuerungen geradeswegs aus dem Hauptquartier kommen, und
    keinesfalls aus meiner leicht entzündlichen Phantasie.
    Die Kinder hörten auf zu essen und gafften. Die auffallende Farbe meiner Haare und die unernste Linie meiner Nase sind offenbar neue Eigenschaften bei einer Vorsteherin. Meine Kollegen zeigten ebenfalls, daß sie mich für zu jung und zu unerfahren halten, als daß mir eine solche Verantwortung übertragen werden dürfte. Ich habe Jervis’ wunderbaren schottischen Doktor noch nicht gesehen. Aber ich versichere Euch, er muß sehr wunderbar sein, um die übrigen Leute hier aufzuwiegen, vor allem die Kindergärtnerin. Miß Snaith und ich hatten sofort einen Zusammenstoß über das Thema: frische Luft. Aber ich bin entschlossen, diesen schrecklichen Anstaltsgeruch zu vertreiben, und wenn ich jedes Kind zu einer kleinen Eisstatue erfrieren lassen muß.
    Da heute ein sonniger, strahlender Schneenachmittag ist, habe ich befohlen, daß der Kerker von einem Spielzimmer geschlossen wird und die Kinder im Freien spielen.
    „Sie jagt uns raus“, hörte ich einen kleinen Kerl murren, als er sich mühte, in einen Mantel zu kommen, der ihm um zwei Jahre zu klein ist.
    Sie standen einfach mit hochgezogenen Schultern in ihren Mänteln im Hof herum und warteten geduldig, bis sie wieder herein durften. Kein Rennen, kein Schreien, kein Schleifen, keine Schneebälle. Stellt Euch vor! Diese Kinder wissen gar nicht, wie man spielt.
    Noch später.
    Ich habe mit der angenehmen Aufgabe angefangen, Euer Geld auszugeben. Ich habe heute nachmittag elf Wärmflaschen gekauft (alle, die im Laden des
    Dorfs zu haben waren), außerdem etliche Wolldecken und gefütterte Steppdecken. Und die Fenster im Schlafsaal der ganz Kleinen sind weit offen. Die armen kleinen Würmer werden das völlig neue Gefühl genießen, nachts atmen zu können.
    Es gibt eine Million Dinge, über die ich schimpfen möchte. Aber es ist halb zehn, und Jane sagt, daß ich ins Bett gehen muß.
    Euer Befehlshaber
    Sallie McBride.

    PS. Bevor ich ins Bett ging, schlich ich auf Zehen durch den Korridor, um mich zu vergewissern, daß alles in Ordnung ist. Und was glaubt Ihr, daß ich gefunden habe? Miß Snaith war im Begriff, leise die Fenster im Schlafsaal der Kleinen zu schließen! Sobald ich eine geeignete Stelle für sie in einem Altersheim für Damen finden kann, werde ich diese Frau entlassen.
    Jane nimmt mir die Feder aus der Hand.
    Gute Nacht.

    John-Grier-Heim,
    20. Februar.
    Liebe Judy!
    Dr. Robin MacRae hat heute nachmittag Besuch gemacht, um die neue Vorsteherin kennenzulernen. Bitte lade ihn, wenn er das nächste Mal nach New York kommt, zum Abendessen ein und stelle selbst fest, was Dein Mann getan hat. Jervis hat die Tatsachen grob entstellt, als er mich glauben machte, daß ein Hauptvorteil meines Amts das tägliche Zusammensein mit einem so polierten, brillanten, gelehrten und charmanten Mann wie Dr. MacRae sein werde.
    Er ist groß und ziemlich dünn, mit samtfarbenem Haar und kalten, grauen Augen. Während der Stunde, die er in meiner Gesellschaft verbrachte, hat auch nicht der Schatten eines Lächelns die gerade Linie seines Mundes erhellt (und ich war sehr amüsant). Kann ein Schatten erhellen? Vielleicht nicht. Aber jedenfalls: was in aller Welt ist mit dem Mann nur los? Hat er ein quälendes Verbrechen begangen? Oder kommt seine Schweigsamkeit nur von dem ihm angeborenen Schottisch-Sein? Er ist ein so guter Gesellschafter wie ein granitener Grabstein!
    Übrigens hat unser Doktor mich ebensowenig gemocht wie ich ihn. Er findet, daß ich unernst und unlogisch bin, und für einen Vertrauensposten völlig ungeeignet. Ich kann mir vorstellen, daß Jervis schon einen Brief von ihm hat, in dem er um meine Abberufung bittet.
    Auch in bezug auf die Unterhaltung blieben wir einander völlig fremd. Er erörterte philosophisch und in aller Breite die Nachteile der Anstaltsfürsorge für abhängige Kinder, während ich leichthin die entstellende Frisur, die bei unseren Mädchen vorgeschrieben ist, beklagte.
    Um meine Ansicht zu beweisen, ließ ich Sadie Kate, mein spezielles Laufmädchen, kommen. Ihr Haar ist wie mit einem Schraubenschlüssel straff angezogen und hinter den Ohren in zwei drahtige Zöpfchen geflochten. Waisenkinder-Ohren müssen ganz entschieden weicher gemacht werden. Aber Doktor MacRae ist es ganz einerlei, ob die Ohren ihnen stehen oder
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