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Lieber Feind

Lieber Feind

Titel: Lieber Feind
Autoren: Jean Webster
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nicht; er interessiert sich nur für ihre Mägen. Wir stritten uns über rote Unterröcke. Ich sehe nicht ein, wie irgendein kleines Mädchen seine Selbstachtung bewahren kann, wenn es einen roten Flanellunterrock anhat, der ein bis zwei Zentimeter unter seinem blaugewürfelten Kattunkleid vorsieht. Aber er findet, daß rote Unterröcke heiter, warm und hygienisch sind. Ich sehe für die neue Vorsteherin eine Regierung mit viel Krieg voraus.
    Nur für einen Zug an diesem Doktor muß ich dankbar sein: er ist fast so neu wie ich und kann mich nicht über die Tradition der Anstalt belehren. Ich glaube, ich hätte unmöglich mit dem alten Doktor Zusammenarbeiten können. Nach den Beweisen seiner Kunst zu schließen, wußte er von kleinen Kindern ebensoviel wie ein Tierarzt.
    Der gesamte Stab hat meine Erziehung zur Anstalts-Etikette in die Hand genommen. Sogar die Köchin hat mir heute mit Festigkeit erklärt, daß das John-Grier-Heim jeden Mittwoch abend Maismehlbrei ißt.
    Sucht Ihr fest nach einer anderen Leiterin? Ich bleibe bis sie kommt, aber bitte findet sie rasch.
    In fester Entschlossenheit
    Eure
    Sallie McBride.

Büro der Vorsteherin,
    John-Grier-Heim,
    21. Februar.

    Lieber Gordon!
    Bist Du immer noch beleidigt, weil ich Deinen Rat nicht befolgte? Weißt Du nicht, daß eine rothaarige Person mit irischen Vorfahren und einem Schuß schottischen Bluts nicht getrieben werden kann, sondern sanft gelenkt werden muß? Hättest Du nicht so abscheulich auf Deinem Willen bestanden, hätte ich lieb zugehört und wäre gerettet gewesen. Jetzt aber gestehe ich offen, daß ich die letzten fünf Tage damit zugebracht habe, unseren Streit zu bereuen. Du hast recht gehabt, und ich unrecht, und wie Du siehst, gebe ich es großherzig zu. Wenn ich je der fatalen Lage, in der ich gegenwärtig bin, entrinnen sollte, werde ich mich in der Zukunft (fast immer) von Deinem Urteil leiten lassen. Kann eine Frau bedingungsloser widerrufen, als ich es tue?
    Der romantische Glanz, den Judy über dieses Waisenhaus ausgoß, besteht nur in ihrer dichterischen Phantasie. Der Ort ist gräßlich. Mit Worten ist es gar nicht zu beschreiben, wie trostlos und düster und übelriechend er ist: lange Korridore, nackte Wände, blau uniformierte, teiggesichtige kleine Insassen, die nicht die geringste Ähnlichkeit mit menschlichen Kindern haben. Und ach, der fürchterliche Anstaltsgeruch. Ein Gemisch von nassen, geschrubbten Böden, ungelüfteten Zimmern und Essen für hundert Leute, das unentwegt auf dem Herd dampft.
    Nicht nur die Anstalt, sondern auch jedes Kind muß umgemodelt werden, und das ist eine allzu herkulische Arbeit, als daß eine so selbstsüchtige, luxuriöse und faule Person wie Sallie McBride sie je hätte unternehmen dürfen. Ich trete zurück, sowie Judy einen geeigneten Nachfolger finden kann, aber das wird, fürchte ich, nicht sofort sein. Sie ist nach dem Süden gefahren und ließ mich hier gestrandet zurück; und ich kann, nachdem ich einmal das Versprechen gab, ihre Anstalt natürlich nicht einfach im Stich lassen. Aber einstweilen versichere ich Dir, daß ich Heimweh habe.
    Schreibe mir einen aufmunternden Brief und schicke eine Blume, um mein privates Wohnzimmer aufzuheitern. Ich habe es von Mrs. Lippett möbliert geerbt. Die Wände sind braunrot; die Möbel knallblau, mit Ausnahme vom Mitteltisch, der vergoldet ist. Grün ist die vorherrschende Farbe im Teppich. Wenn Du mir einige rosa Rosenknospen schenken würdest, wäre das Farbenbild vollendet.
    Ich war wirklich an jenem letzten Abend abscheulich. Aber Du bist gerächt.
    Voller Reue
    Deine
    Sallie McBride.

    Du hättest über den schottischen Doktor nicht so böse zu sein brauchen. Der Mann verkörpert alles, was das Wort „Schottisch“ an Unbeugsamkeit enthält. Ich hasse ihn auf den ersten Blick, und er haßt mich. Oh, unsere Zusammenarbeit wird eine süße Zeit werden.

John-Grier-Heim,
    22. Februar.
    Mein lieber Gordon,
    Deine kraftvolle und teure Mitteilung ist hier. Ich weiß, daß Du viel Geld hast, aber das ist kein Grund, es so frivol auszugeben. Wenn der Gesprächsstoff so aus Dir herausplatzt, daß nur ein Telegramm von hundert Worten eine Explosion verhindert, könntest Du wenigstens ein Nachttelegramm schicken. Hast Du das Geld auch nicht nötig, meine Waisen können es jedenfalls gebrauchen.
    Alsdann, mein lieber Herr, wie wär’s mit ein bißchen gesundem Menschenverstand. Selbstverständlich kann ich die Anstalt nicht so einfach hinschmeißen, wie Du
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