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Lieber Feind

Lieber Feind

Titel: Lieber Feind
Autoren: Jean Webster
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Pflegerin bei ihr. Denk nur an diese ganze Tragödie, die über unserem geduldigen, armen Doktor stand, denn er ist geduldig, obwohl er der ungeduldigste Mann ist, der je gelebt hat!
    Danke Jervis für seinen Brief. Er ist ein lieber Mann, und ich freue mich, daß er belohnt wird. Wieviel Spaß wir haben werden, wenn Ihr wieder in Shadywell seid und wir unsere Pläne für das neue John-Grier machen! Ich habe das Gefühl, als hätte ich das letzte Jahr mit Lernen verbracht und sei nun eben erst bereit, anzufangen. Wir werden dieses in die netteste Waisenanstalt verwandeln, die je gelebt hat. Ich bin so blödsinnig glücklich über die Aussicht, daß ich den Tag mit einem Freudensprung beginne und bei meinen verschiedenen Unternehmungen vor mich hinsinge.
    Das John-Grier-Heim sendet seinen Segen an die beiden besten Freunde, die es je besessen hat!
    Addio!
    Sallie.

Das John-Grier-Heim
    Samstag um halb sieben in der Früh!
    Mein liebster Feind!
    „Einmal bald wird was Schönes passieren.“ Warst Du nicht überrascht, wie Du heute früh aufgewacht bist und Dich erinnert hast? Ich schon! Ich habe zwei Minuten lang nicht gewußt, warum ich so glücklich bin.
    Es ist noch nicht hell, aber ich bin ganz wach und aufgeregt, und muß an Dich schreiben. Ich werde diesen Brief mit dem ersten vertrauenswürdigen

    kleinen Waisenknaben, der auftaucht, schicken, und er wird auf Deinem Frühstückstablett mit Deinem Haferbrei zu Dir heraufkommen.
    Ich werde sehr pünktlich um vier Uhr heute nachmittag kommen. Glaubst Du, die Mrs. McGurk wird je den Skandal zulassen, daß ich zwei ganze Stunden bleibe ohne ein Waisenkind als Anstandsdame?
    Ich habe in gutem Glauben gehandelt, als ich versprochen habe, Deine Hand nicht zu küssen und keine Tränen auf die Steppdecke zu vergießen, aber ich fürchte, daß ich beides getan habe, — oder Schlimmeres! Wirklich, ich habe nicht geahnt, wie lieb ich Dich habe, bis ich über die Schwelle trat und Dich sah, wie Du gegen die Kissen gelehnt warst, über und über verbunden, und mit dem weggesengten Haar. Du bist ein Anblick! Wenn ich Dich jetzt liebe, wo ein ganzes Drittel von Dir aus Gips und Mullbinden besteht, kannst Du Dir vorstellen, wie ich Dich lieben werde, wenn Du nur mehr Du bist!
    Aber mein lieber, lieber Robin, was für ein törichter Mann Du bist! Wie konnte ich in all den Monaten annehmen, daß Du mich liebst, wo Du Dich so scheußlich SCHOTTISCH benommen hast? Bei den meisten Männern würde Deine Art Benehmen nicht als Zeichen der Zuneigung gelten. Ich wollte, Du hättest mich nur die Wahrheit im Entferntesten ahnen lassen; dann hättest Du uns beiden vielleicht einiges Herzweh erspart.
    Aber wir müssen nicht zurückblicken; wir müssen vorwärts sehen und dankbar sein. Die zwei glücklichsten Dinge im Leben werden unser sein: eine freundschaftliche Ehe und Arbeit, die wir lieben.
    Gestern, nachdem ich von Dir fort war, bin ich wie betäubt in die Anstalt zurückgegangen. Ich wollte allein sein und denken, aber statt allein zu sein, mußte ich Betsy und Percy und Mrs. Livermore zum Essen haben (waren schon eingeladen), und dann hinuntergehen und zu den Kindern sprechen. Freitag — gesellschaftlicher Abend. Sie hatten eine Menge neuer Platten fürs Grammophon, ein Geschenk von Mrs. Livermore, und ich mußte höflich dasitzen und zuhören. Und, mein Lieber, Du wirst es komisch finden, — aber das Letzte, was sie spielten, war „John Anderson, my joe John“, und plötzlich mußte ich weinen! Ich mußte das nächste Waisenkind ergreifen und es fest an mich halten und meinen Kopf in seine Schulter vergraben, damit niemand es sieht.
    John Anderson, mein Lieb, John,
    Du stiegst bergauf mit mir,
    Und manchen frohen Tag, John,
    Verlebt’ ich wohl mit dir.
    Nun wanken wir bergab, John,
    Wenns Hand in Hand nur blieb’!
    Dann ruhen wir im selben Grab,
    John Anderson, mein Lieb!
    Ich möchte wohl wissen, ob Du und ich, wenn wir alt, gebeugt und wacklig sind, ohne Bedauern zurückschauen können auf „gar manchen frohen Tag, den wir zusammen verlebt haben“? Ist es nicht schön, es vor sich zu haben — ein Leben der Arbeit und des Spiels und der kleinen täglichen Abenteuer an der Seite von jemand, den man liebt? Ich habe keine Angst mehr vor der Zukunft. Ich habe nichts dagegen, mit Dir zusammen alt zu werden, Sandy. „Die Zeit ist nur der Strom, in dem ich fischen gehe.“
    Der Grund, warum ich angefangen habe, die Waisenkinder zu heben, ist, weil sie mich so brauchen, und das
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