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Lieber Feind

Lieber Feind

Titel: Lieber Feind
Autoren: Jean Webster
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meisterliche Art fertig. Die Aufgabe ist die böseste, die ich anzubieten hatte, und sie gefällt ihr. Ich glaube, sie wird ein wertvoller Beitrag zu unserer Arbeitsgemeinschaft sein.
    Und ich habe ganz vergessen, Dir von Punch zu erzählen. Als das Feuer ausbrach, waren die zwei netten Frauen, die ihn den ganzen Sommer über gehabt hatten, im Begriff, den Zug nach Kalifornien zu besteigen, — und sie haben ihn einfach zusammen mit ihrem Gepäck unter den Arm gestopft und mitgenommen. Also wird Punch den Winter in Pasadena verbringen, und ich nehme fast an, daß sie ihn behalten. Wunderst Du Dich, daß ich über alle diese Ereignisse in gehobener Stimmung bin?

    Später.
    Der arme betrogene Percy hat gerade den Abend mit mir verbracht, weil ich angeblich sein Unglück verstehe. Warum muß ich die Sorgen aller Leute verstehen? Es ist sehr anstrengend, aus einem leeren Herzen Sympathie ausströmen zu lassen. Der arme Kerl ist zur Zeit ziemlich niedergeschlagen; aber ich habe den Verdacht, daß er — mit Betsys Hilfe — durchkommen wird. Er ist gerade im Begriff, sich in Betsy zu verlieben, aber er weiß es noch nicht. Er ist jetzt in dem Zustand, in dem er gewissermaßen sein Unglück genießt; er kommt sich vor wie ein tragischer Held, ein Mann, der wirkhch schwer gelitten hat. Aber ich stelle fest, daß er, wenn Betsy in der Nähe ist, fröhhch bei jedweder Arbeit mitmacht, die gerade im Gange ist.
    Gordon hat heute telegrafiert, daß er morgen kommt. Ich habe Angst vor der Unterredung, denn ich weiß, daß es eine Auseinandersetzung wird. Am Tag nach dem Feuer hat er geschrieben und mich gebeten, die Anstalt hinzuwerfen und sofort zu heiraten; und jetzt kommt er, um darüber zu diskutieren. Ich kann ihm nicht beibringen, daß ein Posten, der das Glück von ungefähr hundert Kindern zu verantworten hat, nicht mit solch entzückender Unbekümmertheit hingeworfen werden kann. Ich habe versucht, was ich konnte, ihn fernzuhalten, aber wie der Rest seines Geschlechts ist er eigensinnig. O je! Ich weiß nicht, was vor mir hegt. Ich wollte, ich könnte einen schnellen Blick ins nächste Jahr werfen.
    Der Doktor ist noch im Gipsverband, aber er soll, wie ich höre, in seiner knurrigen Art Fortschritte machen. Er kann jeden Tag ein wenig aufsitzen und eine sorgfältig ausgewählte Reihe von Besuchern empfangen. Mrs. McGurk siebt sie an derTür und weist diejenigen zurück, die sie nicht mag.
    Leb wohl. Ich würde mehr schreiben, aber ich bin so schläfrig, daß meine Augen auf mir zugehen (der Ausdruck stammt von Sadie Kate). Ich muß ins Bett und etwas Schlaf aufholen, um gegen die einhundertundsieben morgigen Sorgen gerüstet zu sein.
    Viel Liebes den Pendletons.
    S. McB.

22. Januar
    Liebe Judy!
    Dieser Brief bat nichts mit dem John-Grier-Heim zu tun. Er ist nur von Sallie McBride.
    Erinnerst Du Dich, wie wir in unserm letzten College-Jahr Huxleys Briefe lasen? Das Buch enthielt einen Satz, der seitdem in meinem Gedächtnis haften blieb: „Es gibt in jedem Leben ein Kap Horn, um das man entweder herum kommt oder an dem man zerschellt.“ Das ist eine grausame Wahrheit. Und das Schlimmste ist, daß man nicht immer sein Kap Horn erkennen kann, wenn man es sieht. Die Segelfahrt geht oft im Nebel, und man ist zerschellt, bevor man es weiß.
    Ich habe in der letzten Zeit erkannt, daß ich das Kap Horn meines eigenen Lebens jetzt erreicht habe. Ich bin die Verlobung mit Gordon ehrlich und hoffnungsfreudig eingegangen, aber ganz allmählich habe ich Zweifel bekommen, wie es ausgehen werde. Das Mädchen, das er hebt, ist nicht das Ich, das ich sein möchte. Es ist das Ich, von dem ich im ganzen letzten Jahr fortkommen wollte. Ich bin nicht einmal sicher, daß es sie je gegeben hat. Gordon hat es sich wohl nur eingebildet. Jedenfalls existiert sie nimmer, und das einzig faire Verhalten, ihm wie mir gegenüber, war, dem ein Ende zu machen.
    Wir haben keine gemeinsamen Interessen mehr. Wir sind nicht einmal Freunde. Er begreift es nicht. Er glaubt, ich denke es mir aus, und ich brauchte mich nur für sein Leben zu interessieren, dann würde alles glücklich ausgehen. Natürlich interessiere ich mich auch, wenn er da ist. Ich rede über die Dinge, über die er reden möchte, und er weiß nicht, daß ein großer Teil von mir — der größte Teil — ihm einfach
    an keiner Stelle begegnet. Ich spiele Theater, wenn ich mit ihm zusammen bin. Ich bin nicht ich selbst, und wenn wir Tag für Tag dauernd Zusammenleben sollten, müßte
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