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Lieber Daniel. Briefe an meinen Sohn

Lieber Daniel. Briefe an meinen Sohn

Titel: Lieber Daniel. Briefe an meinen Sohn
Autoren: Sergio Bambaren
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zurückfinden wollte, müsste ich anfangen zu graben.
    Also gab ich alles weg und behielt nur so viel Geld, wie ich brauchte, um den Campingbus und die Flugtickets zu bezahlen und ein Jahr lang zu reisen. Jeden Abend trug ich meine täglichen Ausgaben in eine Tabelle ein: Benzin, Essen und das eine oder andere Extra. So hatte ich die Kontrolle über mein Budget, das für meinen ganzjährigen Aufenthalt in Europa reichen musste.
    Doch für die, die ihrem Herzen und ihren Träumen folgen, hält das Leben immer ein paar unverhoffte Überraschungen bereit.
     
    Es geschah am Morgen eines strahlend sonnigen Tages, als ich in Guincho surfte. Ich erwischte eine Welle und ritt sie. Plötzlich tauchte neben mir eine schwarze Gestalt auf. Mein erster Gedanke: »Ein Hai!«, denn das Wasser im Nordatlantik ist normalerweise zu kalt für Delfine. Ich glitt von der Welle, setzte mich aufs Brett und zog die Knie an.
    Dann kam das Tier zurück: Es war ein süßer Delfin. Er umkreiste mich, als wollte er sagen: »Lass uns spielen.« Also wartete ich auf die nächste Welle, und schon schwamm der Delfin wieder vor mir. Wir beide genossen diesen Moment wie Kinder: Wir waren glücklich um des Glückes willen.
     
    Drei Tage und zwei Nächte surfte ich mit diesem wunderbaren Delfin an meiner Seite. Bei Vollmond nachts auf dem Meer zu sein ist ein unvergleichliches Erlebnis, das mich noch heute bezaubert. Am Schillern des Wassers konnte ich sehen, wann eine Welle kam, und wenn ich eine erwischte, war dieses wundervolle Geschöpf neben mir; es hatte beschlossen, mir Gesellschaft zu leisten, es sprang hinter mir in die Welle und tauchte vor mir wieder auf. Diese Augenblicke voller Lebensfreude, wenn man sich so lebendig wie nur möglich fühlt, sind nur mit zwei anderen verrückten Abenteuern zu vergleichen, die ich im Lauf meines Lebens unternommen habe: Ich verbrachte eine Woche in den schneebedeckten Bergen des Himalaja, und ich schlief eine Nacht im Eremo delle Carceri, einer Kartause in einer Waldschlucht hoch oben am Monte Subasio, die der heilige Franz von Assisi aus Fels und Stein erbaut hatte. Das sind die Momente im Leben, die einen so tief berühren, dass man ganz einfach glücklich sein muss! Und genau danach habe ich mich gesehnt. Doch so wie ich im Himalaja wieder ins Tal absteigen musste, um nicht zu erfrieren, oder den Eremo verlassen musste, bevor die Polizei mich erwischte, genauso verschwand auch dieses wunderbare Wesen wieder: Nach drei Tagen und zwei Nächten, die wir gemeinsam in den Wellen verbracht hatten, sah ich den Delfin eines Nachmittags einfach davonschwimmen. Er konnte tun und lassen, was er wollte. Dazu war er auf dieser Welt. Genau wie ich.
     
    Ich brannte noch lange vor Glück, nachdem ich mich von meinem wundervollen Surfpartner verabschiedet hatte. Ich sah ihn nie mehr wieder. Aber ich war von neuer Energie und Lebenslust erfüllt. Allein schon diese drei Tage waren die lange Reise wert gewesen! Ich fühlte mich als Teil des Geschehens und war nicht nur außenstehender Beobachter – das war der entscheidende Unterschied.
     
    Wie immer klappte ich am Abend den Laptop auf, um meine Ausgaben aufzulisten.
    Und da geschah es …
    Nachts bei Vollmond in einem Pinienwald hinter einem Traumstrand bei Lissabon in einem kleinen, alten Campingbus nur im Licht des Monitors und im Mondschein platzte der Knoten. Plötzlich verspürte ich den Drang, zu schreiben, also schrieb ich. Was in den darauffolgenden Wochen geschah, kann ich noch immer nicht ganz begreifen: Drei Wochen lang schrieb ich Abend für Abend, nachdem ich den ganzen Tag auf dem Meer verbracht und nur eine Pause zum Essen oder für ein Nickerchen gemacht hatte. Ich las mir noch nicht einmal durch, was ich geschrieben hatte, die Gefühle flossen einfach aus meinem Inneren direkt in meine Finger und verwandelten sich mithilfe der Tastatur in Wörter auf einem Computerbildschirm.
    Einundzwanzig Abende in Folge schrieb ich ununterbrochen, bis ich fertig war. Ich hatte das Gefühl, alles gesagt zu haben, was ich zu sagen hatte. Dann weinte ich wie ein Kind, denn ohne es zu merken, hatte ich auf einmal den Staub weggeblasen, der meine Seele so viele Jahre bedeckt hatte. Endlich hatte ich den Schlüssel gefunden, der mir die Tür meines goldenen Käfigs öffnen würde, in den ich mich freiwillig hatte einsperren lassen. Endlich konnte ich raus und die Welt wieder mit meinen eigenen Augen sehen. Endlich war ich frei. Es war die Morgenröte eines neuen Tages,
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