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Leute, das Leben ist wild

Titel: Leute, das Leben ist wild
Autoren: Alexa Hennig Lange
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noch einen heftigen Schlag abbekommen. Dabei gibt er seltsame Geräusche von sich, als würde er heulen. Schließlich schaffen es die beiden Beamten, ihn mit aller Kraft gegen die Seite des Polizeiwagens zu drücken. Dabei biegen sie ihm die Arme weit auf den Rücken, sodass Samuel sich nicht mehr rühren kann und vor Schmerz aufschreit: »Scheiße! Wollt ihr mir die Arme rausreißen?«
    Arthur hilft Johannes wieder auf die Beine. »Geht’s?«
    »Ich weiß nicht.« Er blutet ziemlich stark aus der Nase. Zitternd hält er sich die Hand darunter und legt den Kopf nach hinten.
    Um ehrlich zu sein: Ich weiß nicht, was hier vor sich geht und was ich machen soll.
    Arthur sieht ihn mitfühlend an. »Soll ich dich ins Krankenhaus bringen?« Sicherlich kostet es ihn einige Überwindung, Johannes so freundlich zu versorgen.
    »Danke, lass mal.«
    Mama schlägt die Hände vor den Mund, aber bewegen kann sie sich nicht. Sie stammelt nur: »Oh, mein Gott, oh, mein Gott. Was hab ich getan?«
    Endlich habe ich mich wieder. Eilig renne ich ins hell erleuchtete Haus und hole aus dem kleinen Badezimmer, wo noch immer Alinas Haarspray auf der Ablage steht, eine Rolle Klopapier. Und wie ich die Sprühdose sehe, habe ich gleich wieder ihre Stimme im Ohr. »Lelle, ich bringe mich um!« Meine Alina. Ich reiße die Klorolle von
der Halterung, dabei kippt die Spraydose um und fällt scheppernd auf die Fliesen. Warum hat Mama die noch nicht weggeräumt?
    Als ich wieder rauskomme, hockt Johannes schniefend auf den Treppenstufen vor dem Haus. Das Licht des Eingangs strahlt auf ihn und seine blutüberströmten Hände, die seine Nase umklammern und die Jeans. Sogar auf seine Chucks ist das Blut getropft. Samuel sitzt inzwischen hinten im Polizeiwagen, sein Blick ist gesenkt. Er tut mir leid. Alles ist meine Schuld. Gerne würde ich mich zu ihm hinten reinsetzen und ihm sagen, wie leid mir all das tut und dass ich verstehen kann, dass er so wütend geworden ist. Na ja, zumindest halbwegs. Ich glaube, der hat sich auch ein bisschen in die Sache mit meiner Mutter reingesteigert, vermutlich dachte er, sie wären Ashton Kutcher und Demi Moore oder so. Irgendwie so. Jetzt kann er nicht einsehen, warum alles nach ein paar Tagen schon wieder aus sein soll. Vielleicht sieht er gleich noch mal hoch, dann winke ich ihm zu oder lächle. Und er wird es garantiert falsch deuten.
    Mama steht mit Arthur bei den Polizisten und entschuldigt sich für ihren durchgedrehten Freund. »Das war einfach zu viel für ihn. Er ist sehr sensibel, wissen Sie …«
    Die Polizisten notieren sich ein bisschen was und ich setze mich dicht neben Johannes auf den Fußabtreter.
    Tapfer versucht er, Luft zu bekommen. Er nuschelt: »Ich glaube, dieser Penner hat mir wirklich die Nase gebrochen.«
    Ich weiß nicht, was ich Adäquates dazu sagen soll, weil ich mich so unendlich schuldig fühle. Aber ich versuche doch auch einfach nur, stehen zu bleiben, weiterzumachen, nicht aufzugeben. Leise frage ich: »Tut’s weh?«

    Johannes schnieft und wischt sich, so gut es geht, mit dem Klopapier das Blut von den Händen und der Nase und sieht mich aus verquollenen Augen an. Seine Stimme klingt, als hätte er einen unglaublichen Schnupfen. »Es tut scheiße weh.«
    Ich nicke. »Mir auch.«
    Und in dem Moment taucht eine dunkle Gestalt hinter uns auf und legt eine Hand auf meine Haare. »Schätzchen, was ist hier los? Hast du es Mama schon gesagt?«
    Ich sehe nach oben. Da steht Papa und lächelt mich an.

15
    A ls ich am nächsten Morgen aufwache, weigere ich mich, gleich die Augen zu öffnen. Gerade kommt es mir so vor, als hätte ich mich in der Nacht, während ich schlief, in mir verlaufen, als sei ich eine große, lichtlose Höhle, in der ich mich nicht mehr zurechtfinden kann. Vielleicht liegt der Ausgang in diesem neu angebrochenen Tag. Doch ich will und will nicht die Lider aufschlagen, sondern genau nach innen blicken, in meinen riesigen Raum, um ihn durch einen von mir klar formulierten Beschluss für immer zu erhellen, damit ich mich nie wieder darin verlaufen kann. Nur: Welcher Beschluss sollte das sein? Dass ich ab jetzt für totale Ordnung in meinem Leben sorge? Dass ich mir sorgsam jeden meiner Schritte überlege, nichts Dummes mehr veranstalte, in der Schule aufmerksam bin, keine Grenzen überschreite und alle Traurigkeit auf dieser Welt auszugleichen versuche, um Schlimmeres zu verhindern?
    Plötzlich spüre ich, dass ich nicht allein im Zimmer bin. Ich höre es leise atmen.
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