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Leute, das Leben ist wild

Titel: Leute, das Leben ist wild
Autoren: Alexa Hennig Lange
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tief verwurzelte Traurigkeit, dass Mama meint: »Wir müssen verschärft ein Auge auf Alina haben.«
    Ehrlich gesagt, ich würde ungern miterleben, dass Alina sich etwas antut. So eine Nummer habe ich nämlich letzten Sommer hautnah im Krankenhaus miterleben dürfen, wo ich war, um meine Magersucht auszukurieren. Da hat sich meine Zimmergenossin Simona aus Verzweiflung die Pulsadern aufgeschnitten. Alles war voller Blut. Alles! Das komplette Badezimmer, der Teppich, die Laken. Alles.
Leute, ich sage doch: Ich kenne das Leben - besonders von der heftigen Seite. Darum versuche ich, vernünftig zu sein. Was mir so gut wie nie gelingt. Ich habe es ja bereits erwähnt: Morgen legt Johannes auf meiner Party die Platten auf. Schon allein bei der Vorstellung kriege ich Magenkrämpfe. Zum Glück hat Arthur Johannes nur einmal ganz kurz und auch nur im Dunkeln gesehen - und zwar bei einer anderen Party, auf der ich mit Johannes hinter dem DJ-Pult rumgeknutscht habe. Aber ich weiß: Wenn die Situation eskaliert, bringe ich mich auch um.
    Alina trinkt ihre Apfelsaftschorle aus, meine Mutter lächelt wie so ein Buddha vor sich hin und meint schließlich, weil von Alina nichts mehr kommt: »Na, da bin ich ja mal gespannt! Wann erscheint denn das neue Album?«
    Alina zuckt nur wieder mit den Achseln. Meine Güte, langsam geht mir diese Trauer an die Substanz. Irgendwie hat meine Mutter ein Faible für niedergeschlagene Menschen. Ihre beste Freundin Rita ist auch so ein Exemplar. Die wohnt mit ihren beiden Töchtern Alice und Susanna in einer mondänen Villa am Siedlungsrand. Diese Rita tut sich ständig unsagbar leid, weil ihr Mann sie nach albtraumhaften Ehejahren verlassen hat. Außer ihr wundert sich allerdings niemand darüber. Eher, dass er es so lange mit ihr ausgehalten hat. Nun hockt Rita alleine in ihrer riesigen Villa mit Blick über den Park und treibt ihre armen Töchter zu Höchstleistungen an, um durch sie eine gewisse Bedeutung zu erlangen.
    Alice ist so alt wie ich und spielt virtuos Klavier. Ihre Finger flirren und hüpfen über die Tasten, dass einem schwindlig werden kann. Diese Alice hat echt was drauf, so viel ist mal klar, auch, wenn sie leider überhaupt keinen Style hat. Unter uns: Modisch würde ich sie gerne mal beraten.
Das geht gar nicht, wie sie herumläuft - sie sollte einfach aufhören, sich Zöpfe zu flechten und 80er-Jahre Samtkleider anzuziehen.
    Susanna, die so alt ist wie Cotsch, studiert Physik und ist jetzt schon ein wissenschaftliches Genie, das wahrscheinlich in den nächsten zwei Jahren den Physik-Nobelpreis gewinnt. Darauf freut sich Rita schon, weil sie denkt, dass sie dann endlich vor der Weltpresse eine Ansprache halten kann und mit Ruhm und Reichtum überschüttet wird. Überhaupt scheffelt sie Kohle, wo es nur geht. Dauernd soll Alice auf Weltreise gehen oder Hauskonzerte geben, zu der die Nachbarschaft geladen wird und horrende Eintrittspreise zahlen muss. Da es sich ja dabei um »Spezial-Auftritte des Wunderkindes« handelt. Außerdem gibt es schon Merchandising-Produkte von Alice, die Rita fleißig übers Internet vertreibt: Notenständer, Halstücher, Stimmgabeln und kleine Plastikflügel, die eine schwungvolle Melodie klimpern, wenn man sie aufklappt. Und obwohl das Geschäft mit ihren Wunder-Töchtern nicht schlecht läuft, sitzt Rita dauernd bei uns auf dem Sofa rum und lässt sich von meiner Mutter psychologisch betreuen oder etwas zu essen kochen.
    Ich werde mein Leben definitiv später anders angehen als meine Mutter. Gerade, was Partnerschaften anbelangt, werde ich hart durchgreifen und auf Gleichberechtigung pochen. Aber sogar für Papas Fehlverhalten hat Mama Verständnis. Sie meint: »Er hat Angst vor meiner Stärke. Dabei will ich doch auch nur mal in den Arm genommen werden.« Das kann sie echt knicken. Ich kann euch sagen: Sollte mein späterer Mann einmal solche Unterdrücker-Anwandlungen bekommen wie mein Vater, werde ich den sofort verlassen. Wer bin ich denn?

    Alina seufzt wieder tief und knetet dramatisch ihre Hände. Ich blicke derweil auf ihr schwarzes Nietenarmband und die schwarz lackierten Fingernägel. Dann hoch zu ihrer enormen Schürfwunde am Unterarm. Schon wieder durchzuckt mich ein heftiger Schauer, so, als würden sich sämtliche Organe in mir zusammenklumpen. Ihre hochgesprayten Haare wehen leicht im Wind. Am liebsten würde ich Alina unter dem Tisch einen aufmunternden Tritt gegen das Schienbein in ihrer schwarzen Röhrenjeans geben. Das spare ich
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