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Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Titel: Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)
Autoren: Norbert F. Schaaf
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verdrückt sich in einen Abstellraum für Kulissen, schleicht ans Fenster, schiebt die Übergardine auseinander und sieht die schwarze Wolkenwand, die sich drohend im Westen auftürmt; denkt an das Dock von Birma, diese Firmen verschlingende Fata Morgana aus Bert Brechts und Kurt Weills Matrosensong : „Und da braucht nur einmal ein Sturm zu kommen“, hieß es zu Anfang der letzten Strophe und mündete in die endliche Feststellung: „Und steht so was dann vor Gottesthron, da wird in die Hosen geschi...!“  
    Die muffig-feuchte, drückende Luft – trotz der weit offen stehenden Saaltüren – versetzt ihn zurück in die Wirklichkeit des aus der Kulturkneipe dringenden Stimmengewirrs, in welchem über die feige Bagage der Staatsführung gelästert wird, und des Gläserklingens, welches das Herunterspülen des Ärgers begleitete. Und jählings zuckt Gustav zusammen: der erste Gong!
    Er wurde von Libussa Dünnleder geschlagen, wenn – wie seit langen Jahren – Not am Mann war. Auch um die Kostüme musste sie sich kümmern, abends am Tisch mit der Kasse sitzen, die Souffleuse machen, wenn sie spielfrei hatte, die Requisiten besorgen und noch mancherlei mehr, und das alles mit ihren fast achtzig Jahren!
    Im Zuschauerraum wurde es jetzt lauter, die letzten Karteninhaber kamen auf das Gongzeichen hin aus der Gaststube in den Saal geströmt; wieder Schlurfen und Stühlerücken, Räuspern und Husten. Gustav wurde nun doch wieder nervös und setzte sich an seinen Schminktisch; links neben ihm saß Willi, den Kopf vorgebeugt, das Kinn auf die Fäuste gestützt, und schien sich von seinem Spiegelbild hypnotisieren zu lassen. Johannes stand mit verschränkten Armen an die Wand gelehnt, die Augen geschlossen in geballter Konzentration. Super schaut er aus, fand Gustav, mit seinem dunklen Vollbart und den gewellten üppigen Haaren: ein Räuberhauptmann, wie er im Buche steht, Respekt einflößend und autoritativ.
    Der zweite Gong! Gustav hatte gar nicht gemerkt, dass Carl Magnus Dünnleder und Erdmann Jansen schon auf die Bühne gegangen waren. Er lehnte sich zurück und legte blind die Fingerspitzen überm Kopf aneinander, weil er einmal gelesen hatte, dass dabei der Energiestrom im Körper kreisen und wie ein Akkumulator Aktivität und Willenskraft speichern würde. Und neuerlich zuckte er zusammen: der dritte Gong!
    Quietschend und ächzend setzte sich der Vorhang in Aufwärtsbewegung, wurde mit schürfenden Geräuschen hochgeleiert von Onkel Glaubrecht, wie sie den fünfundfünfzigjährigen jüngeren Bruder Dünnleders alle nannten. Gustav blickte zu dem schmächtigen Männchen mit dem langen schütteren gelblich-weißen Haarkranz unterhalb der jetzt für eine übergroße Tonsur geltenden Glatze hinüber, das so gar keine Ähnlichkeit besaß mit seinem hünenhaften, großen Bruder. Onkel Glaubrecht trug schon die braune Kapuzinerkutte des Paters aus den böhmischen Wäldern und war gegürtet mit dem weißen Knotenseil. Nach ihm hatte Libussa Dünnleder Vorhangdienst, da er sich dann für den Pastor Moser umschminken und das härene Mönchsgewand gegen den schwarzen Priesterrock tauschen musste. Er entfernte sich, indem er die Erwiderung auf Franzens Pfaffengewäsche ! vor sich hin flüsterte: „Der Gedanke Gott weckt einen fürchterlichen Nachbarn auf, sein Name heißet Richter . Sehet, Moor, Ihr habt das Leben von Tausenden an der Spitze Eures Fingers, und von diesen Tausenden habt Ihr neunhundertneunundneunzig elend gemacht. Euch fehlt zu einem Nero nur das Römische Reich und nur Peru zu einem Pizarro“, und fügte rasch hinzu: „Sowie ein Rumänien für einen Ceausescu und...“  
    Zunächst blieb Gustav nur das Zuhören. Doch von den Proben her kannte er jedes Spieldetail, jede Nuance des Wortes. Ihm war bewusst: Jetzt steht der Franz mit dem Rücken gegen das Auditorium, seine Hände spielen mit dem Brief, dessen Inhalt dem Vater den ersten Schock versetzen soll. „Die Post ist angekommen, ein Brief von unserm Korrespondenten in Leipzig.“  
    „Nachrichten von meinem Sohne Karl?“ tönt es wie aus einer Gruft. Erstaunlich, was Erdmann aus dem Alten herausgekitzelt hat; das klang ja sogar leidlich hochdeutsch.
    Toll, dass der Onkel Heinrich hat kommen können, irren Gustavs Gedanken ab, und wie lieb er mich darüber getröstet hat, dass die Frau DEFA-Schauspielerin nebst dissidentem Gatten noch im verlängerten Wochenendurlaub auf Hiddensee sei, aber recht bald sich gewiss eine Aufführung anschauen werde.
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