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Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Titel: Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)
Autoren: Norbert F. Schaaf
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Angst und krampfig unechter Humor, derweil überflüssige Weisungen zum hundertsten Mal wiederholt wurden und die geringste Unregelmäßigkeit Anlass zu abergläubischer Nervosität gab.
    Gustav, ein sechzehnjähriger Oberschüler, kaschierte sein Lampenfieber mit den Gedanken an den Opernboogie von Georg Kreisler, den er als Tonbandmitschnitt besaß und wo es heißt: „Heute Abend ist Premier´ / seht das schöne Opernhaus / sieht es nicht phantastisch aus / ist es nicht wunderbar hier: Damen in großer Abendtoilette, Herren im Frack, Hunde werden an der Leine geführt...“ Die anderen Jungen drängten sich trotz ihres Lampenfiebers um das kleine Guckloch im Vorhang, um im Auditorium Ausschau zu halten nach Verwandten und Bekannten, und zwar so ungestüm, dass der bunt nachgesprühte Graffiti-Harlekin in lebhafte Tanzbewegungen geriet. Johannes La Bruyère ließen die Kameraden den Vortritt, so als wäre das schon der Respekt vor ihrem Räuberhauptmann. Und der Junge hatte sie sogleich im Blickfeld: seine beiden Alten, Sonja und Theobald; stocksteif, gespannt bis aufs Äußerste und ungeheuer erwartungsvoll hockten sie da in der zweiten Reihe. Vergeblich schaute sich Johannes nach Romboy um; er hatte seinem Vormund sogar eine schriftliche Einladung zukommen lassen, aber damit gerechnet, dass der Doktor nicht kommen würde. Immerhin war man auf ihn angewiesen und benötigte den Anwalt der x-tausend Verbindungen.  
    Johannes trat zurück in die Kulisse, zog Patricias Telegramm, das – ein außerordentlicher Glücksfall – pünktlich am Nachmittag noch richtig eingetroffen war, aus der Tasche seines Kostüms, wo es die Vorstellung über als sein Maskottchen bleiben sollte: IN GEDANKEN BEI DIR stop HALS UND BEINBRUCH stop DEM GRAFEN KARL stop VON MOOR IN LEIPZIG stop SEI UMARMT UND GEKUESST stop VON IMMER DEINER PATSY.
    Gustav, der jetzt auch zum Guckloch des Vorhangs vorgedrungen war, zischte: „Stoßt mich doch nicht so an, ich kann ja überhaupt nichts erkennen... Moment, gleich...!“ Da saßen in der ersten Reihe rechter Hand der Onkel Heinrich und dort, in der Mitte, Wicki neben Ingrid und ihrer Mutter; gut, dass wenigstens Kerstin die Premiere miterleben durfte, Auseinandersetzungen hatte es reichlich gegeben. Mit der Mama hatte sich nichts machen lassen: die Pietät! Na, dass es so etwas noch gab, heutzutage! Aber war das denn eigentlich erlaubt in diesem Land? fragte sich Gustav. Welcher Art war denn diese Pietät überhaupt? Eine Zeitlang schwarz herumlaufen wie ein Kolkrabe und dabei auffallen wie ein bunter Hund! Ein trübes Gesicht aufsetzen, wenn Leute in die Nähe kamen! Und nach festgesetzter Trauerzeit, heißa!, durfte man wieder so tun, als ob nichts passiert wäre! Trauer nach dem Kalender? Ein Aberwitz, als ob es darauf ankäme... Aber einem die Jugendweihe miesmachen mit Argumenten... Er hatte alles nur Menschenmögliche versucht ... und vorhin noch der Mama entgegengehalten, dass es in den Räubern wirklich nichts zu lachen gäbe, sondern todernst, tragisch sei das alles, ein Pfarrer spiele auch eine Hauptrolle ... nein, die Hauptrolle, das wäre der Pfarrer, da könne sie doch wirklich mitkommen und ihn, ihren ein..., ihren erstgeborenen Sohn in seiner ersten richtigen Rolle sehen, mit echten Schauspielern und auf einer originalen Bühne... Aber nein, diese verfl...ixte Pietät!  
    „Jaaa, ich geh ja schon...“ Er hatte gerade noch den Oppositionellen neben Frau Widulle sehen können, dem er schon in der Kruggasse begegnet war, und wunderte sich über die zwei leeren Plätze neben Janine. Ja, wo war denn überhaupt...?
    „Aber jetzt lasst mich nur noch ein Sekündchen ... durchschauen!“ nörgelte er, ein Auge an das Guckloch heftend: Ah ja, da kam ja die Michaela! Hat sie es also doch nicht übers Herz gebracht, allein daheim hocken zu bleiben; schmaler sieht sie aus und so schrecklich blass, fast krank, könnte man meinen; nur ihre Augen wirken dadurch nur noch... „Ja, verdammte Zucht!“ schreit er gedämpft. „Ist ja schon gut!“
    Er verlässt die Bühne, voll Gedanken; sich zu konzentrieren, sagt er sich. Überall im Bühnenraum knistert´s vor Elektrizität; dazu die seltsame Gewitterschwüle um diese Jahreszeit sowie das Gemurmel und Gehuste des Publikums, das Füßekratzen und Stühlerücken im Zuschauerraum. Fehlt lediglich das Stimmen der Instrumente im Orchestergraben des Opernhauses, denkt er, und Georg Kreisler mit seiner surrealen Opernparodie fällt ihm wieder ein. Er
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