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Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Titel: Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)
Autoren: Norbert F. Schaaf
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rührte Deutschland sich. Und der abgetrennte Teil des Vaterlands, dieser starre, überdisziplinierte und straffe Staat hat angefangen zu kreiseln. Es waren die arbeitenden Menschen und einfachen Bürger, die das vollbracht haben. Und eine Melodie liegt in der Luft, die wir aufbewahren wollen in unsrem Herzen.“  
    Die Oberschüler Täve, Willi und Huschke schauten mit feuchten Augen zu ihrem Regisseur auf, der sich den Schal enger um den Hals zog. Er schenkte ihnen einen lächelnden Blick, wohl wissend, wie stolz sie noch an den überwältigenden Erfolg ihrer RÄUBER-Aufführungen dachten, überschattet allerdings seit kurzem von dem schändlichen Mord an Huschkes junger Tante. Doch die Erhabenheit dieses Augenblicks drängte dies alles in den Hintergrund, ergriffen und beglückt genossen sie die euphorische Stimmung, gingen auf in der Menge freudetrunkener Menschen, die an den Lippen ihres Regisseurs hingen.
    „Was aber ist das eigentlich Geniale an der Sache?“ fuhr Erdmann Jansen sich unter den Leuten umsehend fort. „Stellte man sich die Aufgabe, eine neue Welt zu schaffen, eine neue Zeitrechnung zu beginnen, so würde man unbedingt zunächst verlangen, dass einem das Terrain geebnet wird. Man würde das Ende der alten Ära abwarten, bevor man sich an den Aufbau des Neuen machte. Braucht man denn nicht eine runde Zahl, ein unbeschriebenes Blatt, eine Tabula rasa, um neu zu beginnen? Doch wie anders läuft es hier und heute – keinerlei Umstände, keinerlei Zeremonien! Dieses Wunder der Geschichte, diese Offenbarung bricht ohne Weiteres in die dichteste Alltäglichkeit ein, ohne Rücksicht auf deren Ablauf! Das Unerhörte beginnt nicht mit dem Anfang, sondern gleich mittendrin, ohne im voraus festgelegte Termine – an einem beliebigen Alltag, während Straßenbahnen und Autos durch den Verkehr fahren. Das ist das Genialste. Wie schon Boris Pasternak schrieb: Nur das wahrhaft Große kann sich dermaßen unerwartet und so scheinbar zufällig und zur unwahrscheinlichsten Stunde offenbaren.“
    Eine noch junge Frau namens Michaela Schumann sah zu dem Sprecher auf, und sein von vielerlei Erfahrungen geprägtes Gesicht erinnerte sie wieder an ein ungemachtes Bett, während er aus ihrem hübschen Gesicht schwerlich etwas anderes herauszulesen vermochte, als ein gepflegtes Beet rosa Rosen. Eine steife Bö wehte beider Gedanken auf, um sie in einem hoffnungsseligen Windstoß zu vereinigen, und das Volk sang fröhlich und beseligt, ja übermütig: „Allet hat een Ende, nur die Wurscht hat zwee ...“ Und immer mal wieder, während die Leute auf der Mauer tanzten: „So ein Tag, so wunderschön wie heute!“
    Einige wenige indes sangen ernsthaft und hymnisch:
    „Die janzen Linden sind jetzt eene Welle,
    Und ooch uff beede Backen exquisit!“
     
    Du erinnerst dich? Nein!? Ganz so wird es nicht gewesen sein?
    Wie aber war es dann? Was war das für eine Zeit der historischen Tage und Daten, diese Wende, die schließlich aus uns das gemacht hat, was wir heute sind?
    Zeitzeugen und Fernsehbilder dokumentieren: Trotz der unzähligen Menschen, die aus allen Himmelsrichtungen in den Stadtkern nach Berlin Mitte strömten, kamen die Leute bis zum Marx-Engels-Platz verhältnismäßig zügig voran. Doch dann wurde das Gedränge beängstigender; Unter den Linden hatten sie dicht gemacht, so mussten sie in einem Umweg um die Humboldt-Universität über die Clara-Zetkin-Straße vorbei an der US-Botschaft mit neugierigen Gesichtern hinter jeder Gardine. Ab hier konnten sie sich nur mehr schrittchenweise vorwärts bewegen; am schlimmsten wurde es an der Einmündung zur Otto-Grotewohl-Straße. Sie kamen sich vor wie Schwimmer, die gegen den Strom ankämpfen mussten; sich einen Weg zu bahnen, um schneller ans Ziel zu kommen, erschien ihnen ganz aussichtslos.
    Endlich erreicht die vielköpfige Menge den Pariser Platz, gestern noch Sperrgebiet, heute schon Symbol neu gewonnener Freiheitsrechte, das Räuber -Ensemble Erdmann Jansens steht beinahe direkt unter dem Brandenburger Tor, auf dessen Dach sich die Quadriga lenkende, Eichenlaub bekränzte, ursprünglich paradiesisch-Eva-kostümierte Siegesgöttin Viktoria erhebt.  
    Das Wetter ist von seltener Scheußlichkeit. Bald Sonne, bald Schauer, es regnet und flockt, bis wieder die grelle Sonne blendet. Es streitet alles gegeneinander. Starker, feuchter Wind tobt, Wolken fetzen in rasender Eile über das Land, geben dann und wann Flecke des Himmels frei.
    Erneut geht ein Graupelschauer
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