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Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Titel: Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)
Autoren: Norbert F. Schaaf
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Zeugenaussage vor einem Untersuchungsausschuss oder einem Bewerbungslebenslauf oder einer Heiratsannonce. Spulen wir also lieber das zarte Fädchen der Vergänglichkeit zurück und gehen zunächst in die Räuber -Premiere ...  
     
    Im Kulturhaus Kuhle Wampe wurde gearbeitet, wie das Dünnledersche Ensemble es noch nicht erlebt hatte; sogar der bejahrte Leiter wurde aus seiner feist-lethargischen Gemütlichkeit aufgestört und von Erdmann Jansen gründlich vorgeknöpft; allein schon die Zumutung, eine Rolle ohne seine geliebte Havanna im Mundwinkel spielen zu sollen, brachte für den alten Herrn ein seelisches Erdbeben mit sich.
Weit hinter ihnen lag die Zeit des Filmemachens mit seinen elektrotechnischen Möglichkeiten, vorbei war es nun auch mit dem anheimelnden Dialekt des liederlichen Kleeblattes, das man einstmals in Berliner Mundart aufgeführt, und anderer Viererbanden, die man volkstümlich-satirisch in autonome Szene gesetzt; aus hieß es nun auch für das zur Gewohnheit gewordene Nuscheln und Murmeln des Textes, und es war – weiß Gott – gar nicht leicht für den bemoosten Mimen, quasi wieder ganz von unten der Sprossenleiter anzufangen – mit Sprechübungen.  
    Morgens wollte Libussa, seine bessere Hälfte, noch geschwind vor Beginn der Probe zwei Kostümröcke des Leipziger-Karl aus der Garderobe holen, da sie für Johannes zu weit waren und abgenäht werden mussten, als sie, am Büro des Ensemble-Leiters vorbeikommend, zusammenfuhr.
    „Forrt dorrt vorrm Orrt!“ dröhnte der ohrenbetäubende Bass ihres Carl Magnus mit rollendem R wie einer donnernden Lawine und langgezogenen Vokalen wie altgedienten Nebelhörnern an ihr verdattertes Ohr. Und: „Betörrte, hörrt, derr harrten Fahrrt errschwerrte Arrt führrt Kurrts Gefährrt vorr Siegwarrts Schwerrt!“
    „Ach, du lieber mein Vater!“ rief sie erschrocken und griff sich ans Herz, „jetzt ist der Olle auch noch verrückt geworden!“ Und watschelte kopfschüttelnd hinter die Bühne, von wo sie den Alten weiter deklamierend trompeten vernahm: „Tü, tü, tü, ühü, ühü, ühü! Düürrft üch nücht flüüchtüg düs üüppüge Müündchün züüchtüg ühr küüssün? Wü süüß müchs üntzüündüt...“
    Libussa fühlte eine gewisse Rührung in sich hochsteigen, wie die Erinnerung an den Lieblingspudding ihrer Mädchenjahre, mit einem spürbaren Anflug von Neid, weil sie nicht auch dabei sein durfte. Ihr fielen die Tage ihrer Anfängerzeit am Breslauer Stadttheater wieder ein, da sie auch noch so enthusiastisch gewesen war wie diese jungen Leute hier, mit denen ein begeisternder Erdmann Jansen tagtäglich probierte bis zur endlichen Erschöpfung, was alleine nach Meinung des Spielleiters dafür garantierte, die darstellerische Leistung merklich zu verbessern. Als die Alte den Saal betrat, zuckte sie abermals zusammen, denn ihr Maestro brüllte mit einem Donnerschlag unversehens los: „Sechsundsechzig Schock sechseckige sächsische Schuhzwecke sichern seine stattlichen Schnürschuhe zusammen ... sssammen, sssammen ... sassa ... sasasa ... schaschascha ... schischischi ... scheuscheuscheu ... scheusel ... scheischeischei ... Scheiße!“ grollte er, und es hatte geklungen wie ein alttestamentarischer Fluch, unter dem er mit wuchtiger Faust offenbar das Büchlein Die Kunst des Sprechens aus dem Leipziger Bibliographischen Institut, das ihm von Erdmann Jansen in die Hand gedrückt worden war, zu Boden geschmettert hatte.  
    „Ojottojott!“ raunte Libussa, den Knall kommentierend, begann auf Zehenspitzen zu schleichen und flüsterte: „Es kommt doch halt een bissjen dicke für den juten Ollen!“
    Und hinter sich – noch auf dem Hof bei dem erstaunten Hühnervolk – vernahm sie den reifen Mimen nach tiefschürfendem Räuspern immer wieder aufs Neue wie einen Dampfmotor repetierend weiter üben: „T ... k ... d ... s ... tkds ... tkds“, und: „Ku ... pu ... po ... Kutscher, putz den Cottbuser Postkutschkasten, putz ihn splendid spiegelblank, putz ihn sauber, schmuck und proper mit putzfrisch blitzblank Bimssteinpulver...“
    Und nun rückte der Premierenauftritt in greifbare Nähe! Der Saal füllte sich; das Stimmengewirr schwoll an, Stühle wurden gerückt und Bänke, und das Summen und Brummen, das Scharren und Schaben sollten von jetzt an bis zum ersten Schlag des Gongs kein Ende mehr nehmen.
    In der Garderobe, im Büro und auf der Bühne bei den „alten Hasen“ herrschten Nervosität, Verzweiflung, Spannung, gaumentrockene
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