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Tod in St. Pauli: Krimi Klassiker - Band 1 (German Edition)

Tod in St. Pauli: Krimi Klassiker - Band 1 (German Edition)

Titel: Tod in St. Pauli: Krimi Klassiker - Band 1 (German Edition)
Autoren: Irene Rodrian
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    Richtig bewußt wurde es ihm erst, als er stolperte und gestürzt wäre, wenn ihn der Fremde nicht gepackt und hochgerissen hätte. Er blieb steif und unbeweglich stehen, während der andere den Koffer aufhob, das ausgeleierte Schnappschloß wieder zudrückte und ihn ihm reichte.
    Er war wütend. Wütend auf den Mann, der ihm seinen verdammten Pappkoffer aufheben mußte und ihn stützte, nur weil er selbst anscheinend nicht einmal mehr von der Straßenbahn abspringen konnte. Ohne ein Wort zu sagen wandte er sich ab und ging die Reeperbahn hinauf, über der die Mittagshitze wie eine flimmernde Gallertmasse lag. Seine Hand umklammerte den Koffergriff. Er wunderte sich, daß er das kantige Metall zwischen seinen Fingern spürte und daß er plötzlich das Rumpeln der Straßenbahn hören konnte, die hinter ihm auf der Schleife umkehrte und zurückfuhr. Er atmete tief ein. Zwischen den Häusern hing ein Gemisch von Auspuffgasen, Staub und kaltem Bierdunst.
    Obwohl ihm vor Hunger und Hitze schwindlig wurde, ging er nicht in den Schatten, sondern blieb in der grellen Sonne und starrte auf den Jungen, der in dem Schaufenster zu stehen schien und den gleichen Koffer aus Preßpappe in der Hand hielt wie er. Er hob den Arm etwas an, der Junge im Fenster machte es genauso. Der Jackenärmel rutschte zurück und zeigte die verknautschte Manschette eines gestreiften Hemdes. Blau, grün und grau; vor zwei Jahren hatte es ihm gefallen, jetzt fand er, daß es wie eine Pyjamajacke aussah. Er ließ den Arm wieder sinken und sah mißmutig zu, wie der Junge im Fenster ihm die Bewegung nachmachte.
    Alles war gleich. Die verstaubten Schuhe mit den überspitzen Kappen, dieser lächerliche Fetzen von einem Kaufhausanzug, der Koffer und sicher auch die Sachen in dem Koffer: ein Pullover aus Schafwolle, Wäsche, zwei Bücher – das Strafgesetzbuch und ein Lehrbuch für Elektrotechnik – und das Geld. 178 Deutsche Mark und 50 Pfennig für zehn Monate Vorhanghakenzusammensetzen und elf Monate Arbeit in der Lehrwerkstatt.
    Nur das Gesicht war nicht gleich. Wenn er tatsächlich eine so dürftige Visage mit eingefallenen Backen hatte, konnte er sich gleich einen Strick besorgen. Grau und kümmerlich und wie zu dem Anzug dazugekauft ... Er wandte sich ab; der Junge im Fenster verschwand.
    Zwei Mopeds knatterten an ihm vorbei und wurden vom Bus überholt. Eine Fahrradklingel schrillte, und vom Hafen kam das Tuten der Dampfer und das Kreischen der Dockkräne herauf.
    An der nächsten Ecke blieb er stehen. Die Fehrstraße lag wie ausgestorben vor ihm. Eine Frau lehnte an der Fußgängerampel und stierte ausdruckslos vor sich hin. Die Schminke in ihrem Gesicht war verschwitzt und verwischt, die Haare hingen ihr wie graue, aufgetrennte Wollfäden ins Gesicht. Als er an ihr vorbeiging, hob sie müde den Kopf und sah durch ihn hindurch.
    Über der Kneipe war ein neues Neonschild. Der Schriftzug der Hamburger Schloßbrauerei, der Name: ZUM HELGOLÄNDER, und klein darunter: Inhaber Franz Ott.
    Der Geruch von ranzigem Fett, kaltem Rauch und verschüttetem Bier drang intensiv aus der Tür, die durch einen schrägstehenden Hocker offengehalten wurde.
    Langsam ging er hinein. Die Stühle hingen noch auf den Tischen; der Boden war feucht, und in einer Ecke stand ein halbvoller Eimer mit Zigarettenkippen.
    Hinter der Theke stand Franz und wusch Gläser ab. Er war so fett wie eh und je.
    »Wir haben erst ab vier Uhr offen!« sagte er, dann erkannte er ihn. »Paul, Junge! Du bist es wirklich ... Du hast dich verändert!«
    »Gib mir was zu essen.«
    »Paul! Na so was, Paul ... Ja, zwei Jahre sind eine Menge Zeit in deinem Alter. Aber ich finde, es steht dir gar nicht so schlecht – siehst männlicher aus, direkt erwachsen ...« Franz brach unbeholfen ab und hielt ein Bierglas gegen das Licht.
    Paul sah ihn an. »Brot«, sagte er und setzte den Pappkoffer ab, »viel Fleisch und eine Flasche – eine Flasche Bier!« Er atmete tief durch und empfand den abgestandenen Biermief plötzlich als angenehm. »Kleine Abmagerungskur könnte dir auch nichts schaden!« fügte er hinzu und grinste.
    Franz lachte lautlos in sich hinein. »Willst du hier essen?«
    Paul schüttelte den Kopf. »Ich muß mich waschen, diese stinkenden Klamotten loswerden ... Pack mir die Sachen ein!«
    Franz ging hinaus, und Paul wartete. Als Franz ihm das fettige Päckchen auf die Theke legte, nahm er eine Handvoll Münzen aus der Tasche.
    »Steck das Geld weg!« sagte Franz. »Ist ein Geschenk
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