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Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Titel: Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)
Autoren: Norbert F. Schaaf
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und ihres Hauptmanns ein. Doch die lautstarken Freudenausbrüche bewirkten bei Michaela eine Bedrückung, die sie nicht mehr abstreifen und nur mühsam unterdrücken konnte, um den anderen nicht den Spaß zu verderben.
Das Experiment des Erdmann Jansen war also vollkommen geglückt, noch über seine Erwartungen hinaus hatten sich die Herzen und Hirne der jungen Menschen an Schillers Pathos entzündet und die Funken sprühend überspringen lassen auf das geneigte Publikum. Mit dem aufrührerischen, frühreif-genialen Jugendwerk des zwanzigjährigen Schiller war bewiesen, dass auch Klassiker, zeitgemäß inszeniert, eine nicht zu unterschätzende Wirkung auf die Menschen ausübten. Und die Umarmungen und Beifallsbekundungen und Dankesbezeigungen wollten kein Ende nehmen. Blumen und Geschenkkörbe, gefüllt, so gut oder schlecht es die Umstände in der Hauptstadt der Republik erlaubten, wurden den Darstellern, dem Regisseur und den vielen Helfern überreicht.  
    Erdmann Jansen hatte schon manche Premiere erlebt, diese freilich empfand er als Krönung seiner Liebe zu Schiller, die er manchmal Schwäche nannte und die immer mal wieder gefährdet war, seit er im Bücherschrank seiner Eltern auf eine preiswerte Ausgabe aus der Bibliothek Deutscher Klassiker des berühmten Autors gestoßen war und sogleich begonnen hatte, bäuchlings auf dem Bett liegend, das Schauspiel in einem Stück zu lesen, oder treffender ausgedrückt: zu fressen. Nach den Worten „Aber ist Euch wohl, Vater?“ hatte ihn nichts anderes mehr interessiert als die einzige Frage, was mit diesen Räubern geschehen und wie diese Geschichte, die er unerhört spannend und aufregend fand, ungleich mehr als alle Erzählungen von Indianern und Cowboys, wohl ausgehen würde. Mit hochroten und ebenso heißen Wangen und Ohrmuscheln war er schließlich angekommen bei den Worten: „...wer den großen Räuber lebendig liefert – dem Mann kann geholfen werden“.  
     
    Ständig kamen Frauen aus der Nachbarschaft, auch Kundinnen, um sich nach Michaelas Befinden zu erkundigen. Die junge Frau hatte am Abend der Räuber -Premiere einen Selbsttötungsversuch unternommen aus Verzweiflung über ihre doppelt prekäre Situation, zu der ihr verunfallter Ehemann sowie ihr verhafteter Liebhaber maßgeblich beigetragen hatten. Als ihre Bekannten erfuhren, dass Besuche im Krankenhaus nicht erlaubt seien, ließen sie ihre Blumen und Geschenke in der Kruggasse, wo alles von Ingrid auf einem weißgedeckten Tisch in Michaelas Wohnküche aufgebaut wurde. Dann war es soweit, dass Janine und Ingrid, die als einzige die Patientin hatten besuchen dürfen, ihre Nachbarin aus der Klinik abholten.
Im ersten Moment verlor die Heimkehrende die Fassung, als sie ihre Küche wieder betrat und im Sonnenlicht einen festlich geschmückten Gabentisch erblickte. Diese Zeichen echter Anteilnahme weckten in ihr aufs Neue das Bewusstsein über ihre seelische Verfassung, und zugleich befiel sie brennende Scham vor diesen Menschen, die doch sicher um ihre Beziehung zu dem Warschauer gewusst hatten und ihr dennoch ihr Mitgefühl nicht versagten. Sie sank erschöpft auf einen Stuhl, brach in Tränen aus, weinte haltlos. Janine winkte ihrer Tochter, sie allein zu lassen, und bettete die Rekonvaleszentin auf die Couch. Sie kochte ihr eine kräftige Hühnerbouillon und hielt, nachdem Michaela gestärkt war, den Zeitpunkt für günstig, der Freundin einen Vorschlag zu unterbreiten.  
    „Gestern war ich wieder uffm Berch “, begann sie, „um mit den Schauspielleuten noch ein paar Vorstellungen für weitere Brigaden unseres Kombinats zu vereinbaren. Und da hat mich Herr Jansen gefragt, ob ich nicht zufällig eine Unterkunft für ihn wüsste, weil sein möbliertes Zimmer bald gebraucht werde für einen jungen Mann, der von der Fahne zurückkommt. Auf dem Prenzlauer Berg ist nichts zu bekommen, und die Wohnraumlenkung hat scheinbar nirgendwo in der Hauptstadt was für ihn. Da ist mir der Gedanke gekommen – verzeih mir, wenn ich so offen spreche –‚ ob du ihn nicht in deinem Zimmer hinten als Untermieter aufnehmen könntest. Natürlich wär´s ihm uffm Berch bequemer, aber ehe er gar nichts hat? Aber für dich wäre es auf alle Fälle besser, du bekämst einen anständigen Mieter in die Wohnung, denn du kannst nicht wissen, wen dir die Wohnraumlenkung jetzt reinsetzen wird.“ Michaela kräuselte unschlüssig die Stirn, sodass Janine hinzufügte: „Der Erdmann Jansen ist sicher ein ruhiger und gebildeter
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