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Letzte Ausfahrt Oxford

Letzte Ausfahrt Oxford

Titel: Letzte Ausfahrt Oxford
Autoren: Veronica Stallwood
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zurück und holte die Blumen heraus, die ich als ihr Grabgebinde vorgesehen hatte. Meine ursprüngliche Idee war gewesen, sie ihr zum Gedächtnis den Fluss hinunterschwimmen zu lassen, aber nun steckte ich die Stängel tief in die lockere Erde und sah zu, wie die rosa Blüten sich mit Regen voll saugten. Wahrscheinlich hätte sie die Musik gemocht. Kennen Sie das Adagietto? Visconti hat es in seinem Film Tod in Venedig verwendet. Es ist wirklich sehr hübsch.
    Entschuldigen Sie, ich habe gerade nicht aufgepasst, sondern vor mich hin geträumt. Was sagten Sie, Mrs. Dolby?
     
    In diesem Kurs wollen wir uns mit dem Schreiben von Prosa beschäftigen . Viele Schriftsteller gehen von eigenen Erlebnissen aus , setzen sie in eine bestimmte Reihenfolge und schaffen damit einen Spannungsbogen . Erst so entsteht die Form , die wir eine Geschichte nennen . Eine der fruchtbarsten Perioden für solche Erlebnisse ist die Kindheit , denn damals waren unsere Gefühle noch viel intensiver . Als erste Übung möchte ich Sie bitten , über ein als einschneidend erlebtes Ereignis aus Ihrer Kindheit in der ersten Person zu schreiben – aber so , als sei die Geschichte einem anderen Menschen passiert . Das » Ich « dieses Erlebnisses sollten nicht Sie selbst sein . Versuchen Sie , objektiv zu bleiben , wahren Sie aber dennoch die Emotionen , die das Ereignis hervorgerufen hat .
     
    Ich möchte mit meiner frühesten Erinnerung beginnen: einem Türknauf an der Eingangstür. Er ist hart, weiß, aus glänzendem Porzellan, sieht aus wie ein zu lange gekochtes Ei und riecht nach den Händen meiner Mutter. Im Hintergrund dudelt ein Radio.
    Es ist das erste Haus, an das ich mich erinnern kann, darin gewohnt zu haben. Es steht in der St. Antony’s Road im Oxforder Stadtteil Summertown. Die Straße wird gesäumt von hohen, aus gelblich grauem Ziegelstein erbauten Häusern mit niedlichen gotischen Türmchen und spitz zulaufenden Fenstern unter grauen Schieferdächern. In den Gärten wuchern Sträucher, und die Garagen sind voll gestopft mit Fahrrädern und Krocket-Schlägern.
    Unser Haus hat im ersten und zweiten Stock ein Muster im Mauerwerk, als hätte man in einen grauen Pullover ein paar Reihen rote und gelbe Wolle hineingestrickt. Die vergilbten Blätter zu hoch aufgeschossener Geranien pressen sich an das Glas eines zerfallenden Gewächshauses, das an unserer Rückwand lehnt.
    Im Frühjahr erglüht die Straße im Rosa von Pflaumen- und Kirschblüten, im Herbst liegt ein dicker weicher Teppich aus braunen Blättern auf dem Pflaster. Selbst der Regen fällt hier leise; man könnte meinen, er wolle auf keinen Fall stören. Weder die Professoren in ihren Arbeitszimmern noch die jungen Leute, die sich auf ihre Aufnahmeprüfungen an den Universitäten vorbereiten, oder die Mütter, die Radio hören, während sie Kartoffeln für das Abendessen stampfen.
    Gott allein weiß, was Mutter und ich hier in diesem Haus zwischen der Woodstock und der Banbury Road zu suchen hatten. Einen zu uns gehörigen Mann gibt es nicht. Unsere Haustür ist knallblau statt rotbraun, und sie fällt so laut hinter uns ins Schloss, dass die Hunde der Umgebung aufjaulen. Unsere nicht umgenähten Vorhänge sind mit Sonnenblumen in Elefantenohrengröße geschmückt, und unser Radio ist das lauteste der gesamten Nachbarschaft.
    An diesem Morgen lungert Mutter in der Küche herum, begutachtet die Rechnungen des Vortags in ihren zerrissenen braunen Umschlägen und nörgelt an allem herum, was ich tue. Manchmal kommt sie morgens aus ihrem Schlafzimmer wie von einer Bühne: Ihr rosa Morgenmantel bauscht sich hinter ihr, und die Absätze ihrer Satinpantoletten klacken im Takt mit der fröhlichen Musik aus dem Radio über den Fußboden. Sie breitet die Arme aus, hüllt mich in eine Duftwolke aus Jasmin und Schweiß und spricht mit einer komisch tiefen Stimme wie jemand aus dem Fernsehen. Wenn sie so ist, dann weiß ich, dass alles, was sie sagt, zwar nicht unbedingt eine Lüge ist, aber doch immerhin nicht die reine Wahrheit. An jenem Morgen sehe ich Mutter zu und gebe vor, brav am Küchentisch zu sitzen und mein Frühstück zu essen. Da klingelt das Telefon. Sie erwacht zum Leben wie eine Marionette in den Händen eines Puppenspielers. »Sie wollen mich«, singt sie und gleitet hinaus in den Flur zum Apparat. »Jeder liebt mich«, tiriliert sie, während sie den Hörer abnimmt. »Ja bitte?«
    Weil ich genau weiß, was als Nächstes geschehen wird, rümpfe ich die Nase und lasse
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