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Letzte Ausfahrt Oxford

Letzte Ausfahrt Oxford

Titel: Letzte Ausfahrt Oxford
Autoren: Veronica Stallwood
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meinen Toast mit der gebutterten Seite nach unten fallen. Sie spricht noch immer mit dieser leisen Murmelstimme. Ich beginne zu quengeln und stoße den Becher mit der warmen Milch um, auf der sich bereits eine runzelige Haut gebildet hat. Auf dem Tisch entstehen drei ausgeprägte Pfützen, aus denen Löffel, Messer, Butter und Cornflakes-Dose wie einsame Inseln herausragen.
    »Ich muss weg«, sagt sie, nachdem sie den Hörer aufgelegt hat. »Nicht lange. Ich komme gleich wieder. Nur ein paar Minuten, ganz ehrlich.« Dabei schaut sie mich nicht an. Im Hintergrund knurrt die Musik mit Trommeln und Trompeten.
    Ich quengele lauter und heule auf.
    »Du selbstsüchtiges kleines Biest!«, schimpft sie. »Du denkst immer nur an dich. Und was wird aus mir? Keiner kann erwarten, dass ich den lieben langen Tag hier allein mit dir verbringe!« Sie kommt ganz nah heran und starrt mir ins Gesicht. »Ein Kind soll immer lieb sein zu seiner Mutter«, zischt sie mich an. »Also warum zeigst du mir nicht, dass du mich lieb hast, und hörst mit diesem Geplärr auf? Ich gehe jetzt kurz weg, hörst du? Und wenn du ein ganz lieber Junge bist, bin ich vor dem Mittagessen zurück.«
    Ihr Blick schweift ab. Sie entdeckt den Toast und die verschüttete Milch und versetzt mir einen heftigen Schlag auf die nackten Beine. Ich keuche und schnappe nach Luft, aber ich gebe keinen Laut von mir. Sie zieht den zarten rosa Morgenmantel fester um die Schultern.
    »Ich kann nichts dafür«, sagt sie. »Du solltest mir nicht die Schuld in die Schuhe schieben. Und außerdem bin ich bestimmt nicht lange weg.« Sie geht in ihr Schlafzimmer und zieht sich an. Ich matsche mit den Fingern in der verschütteten Milch herum und presse die Lippen fest aufeinander. Auf keinen Fall darf ich weinen oder schreien, denn wenn ich nicht brav bin, kommt sie vielleicht nie wieder zurück.
    Sie kehrt in die Küche zurück und beschäftigt sich mit ihren Haaren. Sie rafft sie oben auf dem Kopf zusammen und zupft eine Locke heraus, die sich über ihrem linken Ohr kringelt. Sie hat langes Haar; dichte, wallende, rotbraune Locken. Sie lächelt ihr Ebenbild in dem runden, schwarz gerahmten Spiegel auf dem Sideboard an, schürzt die Lippen und bemalt sie mit Lippenstift. Danach pinselt sie etwas darüber, das wie Schneckenschleim glänzt. Mit ihrer spitzen roten Zunge leckt sie Lippenstiftspuren von den Schneidezähnen.
    »Gut siehst du aus, mein Mädchen. Wirklich gut«, sagt sie mit merkwürdiger Stimme und wiegt sich in der Hüfte. Sie nimmt eine Tube aus der Schublade, drückt einen langen weißen Hautcremewurm heraus und massiert ihn in Hände und Handgelenke. Der Duft durchdringt den ganzen Raum. »Sei schön lieb«, sagt sie mit ihrer anderen Stimme. Einer Stimme, die wie zerbrochene Eierschalen klingt. »Schließlich bist du schon ein großer Junge. Kein Theater, verstanden?« Sie hebt mich aus meinem Stuhl und setzt mich auf den butterverschmierten Teppich. »Du darfst deine Musik hören, während ich weg bin.« Und mit diesen Worten dreht sie das Radio lauter und sucht einen Sender. Die ganze Küche wird von Musik durchdrungen, die sich mit dem Geruch von Kaffee und verbranntem Toast mischt. »Drittes Programm. Das ist, glaube ich, ein Kultursender«, sagt sie. »Den kannst du hören, bis ich wiederkomme. Vielleicht lernst du ja etwas.«
    Ich folge ihr bis zur Tür, obwohl sie mich zurückscheucht und dabei zischt wie eine schlecht gelaunte Gans. »Zu ärgerlich, dass ich keine Zeit hatte, dich anzuziehen«, sagt sie, während ihre rosa Zehen in die hochhackigen weißen Sandalen gleiten, die neben der Eingangstür stehen. Die Tür knallt zu, und ich höre das Klappern ihrer Füße auf dem gepflasterten Weg, das Quietschen und Scheppern des Riegels am Gartentor und schließlich das langsam leiser werdende Klacken ihrer Absätze, als sie die Straße hinuntergeht und aus meinem Morgen verschwindet.
    »Nein!«, schreit die Musik in einer ansteigenden Quinte; dann hüpft sie davon, über Felder und wildblumenbesternte Wiesen bis zu einem unter Bäumen versteckten See, wo ein Kuckuck ruft. Und ich stehe da und habe den Mund voller Türknauf: hart, weiß, Porzellan. Wie ein zu lange gekochtes Ei. Wenn ich den Knauf ganz fest halte, kommt sie vielleicht zurück. Im Haus ist es dunkel wie am Abend. Die Vorhänge sind zugezogen.
    Drei schnelle Schritte nähern sich der Tür. Das ist nicht Mama. Ich weiche zurück. Der harte Klang von Stiefeln auf Stein, dann das Rascheln von
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