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Letzte Ausfahrt Oxford

Letzte Ausfahrt Oxford

Titel: Letzte Ausfahrt Oxford
Autoren: Veronica Stallwood
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Briefen im Briefkastenschlitz. Zwei braune Umschläge fallen auf den Läufer; ein dritter, größerer bleibt in der Öffnung stecken. Ich strecke die Arme aus und zerre mit der rechten Hand an dem Umschlag, während ich mit der linken die Klappe aufhalte. Es ist ein großer, tiefer Briefkasten mit einer leichten Krümmung. Wenn ich mich auf die Zehenspitzen stelle, kann ich hindurchschauen und erhasche einen länglichen, schmalen Ausblick auf die Außenwelt. Die Sonne scheint, und meine Aussicht ist hell erleuchtet.
    Der Weg von der Haustür zum Gartentor besteht aus grauen, im Fischgrätmuster verlegten Steinen. Ich kann gerade bis zum Gartentor sehen, das von hohen roten Blumen flankiert wird. Die Blumen sehen aus wie aus Papier, und die Sonne scheint hindurch. Meine Mutter hat das Gartentor offen gelassen.
    Eine Gestalt erscheint. An einer straff gespannten Leine zerrt sie einen stämmigen, gelbfelligen Hund hinter sich her. An unserem hyazinthenblauen Gartentor bleiben sie stehen. Der Hund pinkelt an den Torpfosten. Die Frau im alten Kamelhaarmantel sagt mit herrischer Stimme: »Nun komm schon, George!« und zieht an der Leine. Und dann gehen sie weiter, zwei wohl frisierte Bewohner Nord-Oxfords, nachdem sie ihrer Ansicht über meine Mutter und mich Ausdruck verliehen haben.
    Näher am Haus, auf der rechten Seite, neigen sich schwere weiße Pfingstrosen über den Gartenweg. Ihre Blütenblätter bedecken den Weg wie abgeschnittene Ohren. Draußen im Garten muss wohl Sommer sein, genau wie hier drinnen in der Musik. Schräge Sonnenstrahlen durchdringen das Blattwerk und illuminieren einen ganzen Wald aus jadegrünen Stängeln und feuerroten Blumen. Am rechten Bildrand stehen die Pfingstrosen. Gerade als ich hinschaue, zersplittert eine der Blüten in einer leichten Brise. Noch mehr zarte weiße Ohren rieseln auf den Gartenweg.
    Am linken Bildrand taucht wieder eine Frau auf, eine jüngere dieses Mal. Sie trägt eine grüne Jacke. Ihr folgen zwei Kinder, die zwar älter sind als ich, aber ebenfalls noch zu jung für die Schule. Die Kinder bleiben stehen und spähen durch das offene Gartentor. Ich frage mich, ob sie meine Augen durch den geöffneten Briefkastenschlitz erkennen können. Am rechten Rand erscheint nun wieder die Frau, packt ihre Sprösslinge an störrisch widerstrebenden Armen und befördert sie nach rechts davon. Ich höre ihre unwirsch scheltende Stimme in der Ferne verklingen.
    Mir scheint, dass Mutter schon lange Zeit fort ist. Immer noch stehe ich da und versuche, den harten, weißen Türknauf mit meinen Zähnen zu bearbeiten. Schließlich trolle ich mich zum Sofa, lege meinen Kopf auf das Kissen und träume von weißen Pfingstrosen und toten Babys, bis ich wachgerüttelt werde. Ihre Hand liegt auf meiner Schulter, und ihr langes, offenes Haar streift mein Gesicht. Um mich herum riecht es unangenehm, und das Sofa ist warm und feucht.
    »Du Schmutzfink! Ekelhafter Schmutzfink!«, schimpft sie und schüttelt mich. »Warum hast du das getan? Das ist doch die reine Boshaftigkeit!« Sie greift unter meine Achseln, hebt mich hoch und stellt mich auf die Füße. »Du stinkst. Das ganze Haus stinkt nach dir!« Ihr Gesicht flimmert wie durch den Rauch eines Lagerfeuers betrachtet. Erneut hebt sie mich hoch, trägt mich mit ausgestreckten Armen in Augenhöhe vor sich her und lässt mich in die Badewanne plumpsen. Kaltes Wasser strömt aus dem Wasserhahn über meinen Körper. Mit einem Waschlappen scheuert sie an mir herum. Trotz des schmerzhaft kalten Wassers spüre ich genau die Stelle, wo ihre Daumen sich wie kleine schwarze Blütenblätter in meine Schultern bohren. Sogar ihre Form kann ich erkennen. Obwohl ich ein kräftiges Kind bin und am liebsten trampeln und strampeln würde, tue ich es nicht. Ich weine auch nicht. Ich stehe einfach nur still und verschließe alles in meinem Innern. Ich fühle, wie es in mir zittert, sich zusammenballt und versucht, durch meine Augen und meinen Mund zu entkommen, aber ich halte es in meinem Herzen fest und warte darauf, dass der Sturm vorübergeht und sie mich auf ihren Schoß setzt und mit mir spricht. Die schwarzen Blütenblätter ihrer Daumen zeichnen sich unauslöschlich auf meinen Schultern ab.
    Sie sagte, es wäre ein guter Teppich gewesen. Ob er immer noch, zart nach Inkontinenz duftend, auf dem Boden eines Hauses in Nord-Oxford liegt? Sozusagen als Erinnerung an die Babyzeit, die wir alle durchgemacht haben, aber auch an das Greisenalter, auf das wir
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