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Letzte Ausfahrt Oxford

Letzte Ausfahrt Oxford

Titel: Letzte Ausfahrt Oxford
Autoren: Veronica Stallwood
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gestattet, sie zu leben, dann muss ich mich wohl oder übel damit begnügen, sie zu schreiben. Das ist ungefähr so, als höre man eine Aufnahme von Mahler, anstatt ins Konzert zu gehen. Vielleicht sogar noch schlimmer. Aber genau genommen ist alles besser als eine Welt ganz ohne Musik.
    Eines Tages habe ich versucht, ihnen das mit der Musik zu erklären. Die Ärztin sagte, sie liebe Mozart. Ich erzählte ihr, dass ich jahrelang Mozart gehört hätte. Man kann seine Musik auf ein Stück Papier legen und Linien darum ziehen. Man kann sie auch in eine Kiste einschließen. Aber der Geist, das Genie – sogar das von Mozart – rüttelt am Deckel und versucht, hinauszukommen. Und manchmal, zum Beispiel in der Arie der Königin der Nacht, entkommt es und schwebt befreit und entfesselt davon. Aber meistens bleibt es brav zugeknöpft in seinem Wams. Eben Mozart. Aber dann lernte ich Mahler und Strawinsky kennen. Um deren Musik kann man keine Linien ziehen. Sie zerstören jede Schublade, bis sie frei sind; sie sind so kratzbürstig wie Stacheldraht, und sie schreien einen an. Oh ja, seit ich Mahler und Strawinsky kennen gelernt habe, hat sich mein Leben sehr verändert. Nehmen Sie nur diese Pulcinella. Man glaubt, sie sei vorhersehbar und sicher, mit ihrem kurzen Blondschopf und ihren grauen Augen, aber dann überrascht sie einen doch. Mit Zimbeln in den Händen schleicht sie hinter einem her, bis man vor Schreck aus dem Sarg springt.
    Ich glaube, die Ärztin hat mich nicht verstanden. Aber vielleicht ist sie ja auch einfach nur unmusikalisch. Sie machte sich lediglich ein paar Notizen und ging hinaus. Ich hätte gerne gelesen, was sie geschrieben hat. Wenn sie einen nämlich auf Papier festhalten, sollen sie es auch richtig tun. Ich hätte es nur gern überprüft.
    Manchmal fürchte ich, dass es ihnen gelingt, mich zu verändern, und ich dann nie mehr werde schreiben können. Ich würde zu einem Schauspieler werden, der nur noch die Zeilen anderer Leute aufsagt, anstatt eigene zu fabrizieren.
    Sie haben mir gesagt, ich müsse zwischen der realen Welt und meiner Fantasie unterscheiden lernen. Ich habe Angst, dass ich, wenn sie ihren sanften Zwang fortsetzen, eines Tages nicht mehr fähig bin, mich frei zwischen den verschiedenen Leuten zu bewegen, die in meinem Kopf wohnen. Woher wollen sie wissen, wer von ihnen real ist und wer meiner Fantasie entspringt? Noch nicht einmal ich weiß das, und sie noch viel weniger. Aber es wird schwieriger, die Bilder in meinen Kopf zu lassen und mich in sie hineinzuversetzen, wie ich es gewohnt war. Hier hausen die Vandalen. Ich baue mir eine Welt auf, aber ehe ich hineingehen und in ihr leben kann, kommt so ein weiß bemäntelter Hooligan und trampelt auf ihr herum. Meine nächste Geschichte werde ich irgendwo verstecken, wo niemand sie findet. Dann kann ich in ihr leben, wann immer ich möchte.
    »Erzählen Sie uns mehr davon, Graham«, sagten sie zu mir. »Erzählen Sie uns von dem kleinen Jungen namens Viv.« Sie sprechen mit mir, als hätte ich ihn erfunden. Wenn ich versuche, mich an den Pfefferminzduft oder den schweren, süßlichen Geruch von kochendem Katzenfutter in einem großen Aluminiumtopf zu erinnern, verblasst er bald zu Bohnerwachsdünsten und Desinfektionsmittelgestank, nach denen hier alles riecht. Tante Nells rotes Haar unter dem violetten Hut ist in tausend Stücke zersprungen und aus meinem Augenwinkel verschwunden, als ich gerade glaubte, sie fast greifbar vor mir zu sehen.
    Sie sagen mir auch, ich solle von meiner Mutter sprechen. Ich soll so tun, als redete ich mit ihr.
    »Lassen Sie Ihren Gefühlen freien Lauf«, sagen sie.
    Welchen Gefühlen?
    Was nutzt es, mit ihr zu sprechen? Sie hört nicht zu. Jahrelang habe ich versucht, Kontakt zu ihr aufzunehmen und mit ihr zu reden. Ich schrieb ihr Briefe. Lange, weitschweifige, kindliche Ergüsse, die ich niemals abschickte. Ich weiß nicht, wo sie ist, und ich glaube, sie wissen es auch nicht.
    Sie haben hier eine Lehrerin für Kreatives Schreiben, die ab und zu kommt und mir sehr viel Mut macht. Ich glaube, ich kann ihr mehr bieten als die anderen Kursteilnehmer. Vor allem mehr als diejenigen, die sich schwer tun, Worte zu Papier zu bringen. Wie zum Beispiel Joe, dem immer die Zunge aus dem Mundwinkel hängt, der mit dem Stift Löcher ins Papier bohrt und alle paar Minuten fragt, wie man ein bestimmtes Wort buchstabiert.
    »Machen Sie sich keine Gedanken um die Rechtschreibung«, sagt sie heiter und lächelt mit
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