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Letzte Ausfahrt Oxford

Letzte Ausfahrt Oxford

Titel: Letzte Ausfahrt Oxford
Autoren: Veronica Stallwood
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schlank ist er ja, dachte Kate, aber athletisch sieht er mir nicht gerade aus. Trotzdem würde ihm der Abstand zwischen den beiden Galerien vermutlich keine Mühe bereiten.
    »Sie sehen aus, als wären Sie nicht gerade eine Freundin großer Höhen«, meinte er. »Wenn Sie zum Beispiel wegen eines Feuers hier festsitzen würden, könnten Sie nicht fliehen.«
    Er lächelte sie auf eine Weise an, die sie einen Schritt zurückweichen ließ. Unwillkürlich dachte sie daran, wie er die Pornografiebücher in seiner Bibliothek handhabte.
    »Stimmt, ich leide ein wenig unter Höhenangst«, bestätigte sie. »Aber ich muss jetzt sowieso gehen, denn ich gebe heute Abend in den Seminarräumen von Kennedy House einen Kurs in kreativem Schreiben. Und wenn ich mich nicht sehr bald in den Feierabendverkehr stürze, schaffe ich es niemals rechtzeitig.«
    »Gut, ich begleite Sie nach unten. Der Gedanke, Sie allein über die offenen Stufen laufen zu lassen, gefällt mir gar nicht.«
    »Danke, aber das ist wirklich nicht nötig.«
    »Ich bin ebenfalls auf dem Weg nach Kennedy House, Kate. Ich will dort einen Kollegen besuchen.«
    »Ich möchte lieber allein gehen, Mr. Tabbot. Wissen Sie, ich bin ein sehr unabhängiger Mensch.«
    »Aber es ist so tief, und unten ist nichts als nackter Beton. Sie müssen mir Ihren Arm geben. Es wäre doch schrecklich, wenn noch ein Unglück geschähe.«
    »Keine Ahnung, wovon Sie sprechen.« Allmählich leerte sich die Bibliothek. Studenten räumten ihre Bücher zusammen und verschwanden nach und nach zum Abendessen in die Mensa. Selbst wenn sie jetzt um Hilfe riefe, käme Kevin Newton vermutlich nicht aus seinem Büro heraus. Zwischen Kate und dem Erdgeschoss lag ein tiefer, tödlicher Abgrund, und die Anwesenheit von Francis Tabbot machte sie von Minute zu Minute nervöser. Ihr blieben höchstens noch zehn Fuß für den Rückzug, dann stünde sie mit dem Rücken zur Wand. Aber Tabbot machte sich nicht die Mühe, näher zu kommen. Er wusste genau, dass sie ihre Situation ebenso gut einschätzen konnte wie er.
    Ihr blieben genau drei Möglichkeiten.
    Wenn sie versuchte, an Tabbot vorbeizukommen, wenn sie ihn anschrie und einen großen Wirbel veranstaltete, müsste sie mit einem mutmaßlichen Mörder auf den Fersen diese lange Wendeltreppe hinunterlaufen, ohne dass von irgendwoher Hilfe zu erwarten wäre. Ihre Chancen, ihn im Rennen zu schlagen oder das Erdgeschoss unversehrt zu erreichen, standen eher schlecht.
    Sie könnte sich auch weiter an der Mauer entlang zurückziehen. Aber nach nur zehn Fuß ging die Mauer in Glas über, und sie wusste, ganz Oxford würde unter ihren Füßen wanken und schwanken. Sie würde ihre Augen schließen und sich seitwärts bewegen müssen wie ein Krebs, damit ihr Blick auf keinen Fall direkt nach unten fiele. Trotzdem, und das wusste sie, würde ihr die ganze Zeit dieser Zwang zu springen im Nacken sitzen, der sie oft in großen Höhen befiel. Die unglaubliche Anspannung in ihrem Innern schien dann nur dadurch besiegbar zu sein, dem Drang der Schwerkraft nachzugeben und zu stürzen: hinaus, durch das Glas hindurch und einige Sekunden zu fliegen wie ein Vogel, ehe sie auf dem Pflaster zerschmetterte.
    Aber es gibt noch eine dritte Möglichkeit, dachte sie. Wenn ich mich dazu durchringen kann. Und wenn es auf dieser Seite der Tür einen Schlüssel oder einen Riegel gibt.
    »Na los, Kate. Sie werden zu spät zu Ihrem Kurs kommen. Sie wissen doch längst, dass Sie mit mir kommen müssen. Sie haben gar keine andere Wahl.« Er stand außer Reichweite zwischen ihr und der Treppe. Aber auch unsägliche Angst durfte keine Entschuldigung für Untätigkeit sein. Kate wählte die einzige Möglichkeit, die ihr blieb. Und zwar so schnell, dass ihr keine Zeit zum Nachdenken mehr blieb. Mit einem Anlauf musste es gehen – sie war jung und körperlich fit.
    Mit einem einzigen Sprung hechtete sie auf das breite Holzgeländer, stand für den Bruchteil einer Sekunde aufrecht – und sprang. Die gegenüberliegende Balustrade erwischte sie gerade noch mit einem Fuß. Doch ihr Schwung riss sie nach vorn aus der Gefahrenzone. Sie duckte sich. Die Tür! Sie musste die Tür erreichen! Hinter sich hörte sie Tabbot schreien, aber sie beachtete ihn nicht. Sie betete nur, dass die Tür nicht abgeschlossen war.
    Und sie ging auf. Kate ließ sie hinter sich ins Schloss krachen, nahm sich gar nicht erst die Zeit, sie zu verriegeln, und hastete die Treppe hinunter, die sich vor ihr auftat. Das
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