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Letzte Ausfahrt Oxford

Letzte Ausfahrt Oxford

Titel: Letzte Ausfahrt Oxford
Autoren: Veronica Stallwood
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unausweichlich zusteuern.
    Später, als ich wieder sauber und endlich angezogen bin, streckt sie sich auf dem Sofa aus, zieht mich auf ihren Schoß und spricht mit mir. Sanft murmelt sie in die Haare über meinem Ohr. »Hör mal, mein Liebes, du weißt doch, dass die Mami dich wirklich lieb hat.« Ihre Arme sind stark und pressen mich an ihren Körper. Ich kann ihr Haar riechen, ihren parfümierten Schweiß und ihren Pfefferminzatem.
    »Du wirst jetzt nicht mehr ungezogen sein, nicht wahr? Und du wirst auch nicht mehr weinen, wenn die Mami einmal weggehen muss. Ich habe dich nicht wirklich allein gelassen. Das hast du dir nur eingebildet. Und wenn dich jemand danach fragt, gibst du einfach keine Antwort. Du benimmst dich einfach wie ein lieber kleiner Junge und sagst gar nichts.« Ich spüre die leise Drohung ihrer Hand, die meinen Kopf und meinen Hals streichelt, und nicke zustimmend. Ich gebe ihr zu verstehen, dass ich niemals mehr ein Wort sagen werde, wenn es das ist, was sie von mir verlangt.
    Sie hat die sterbenden Pfingstrosen aus der Staude geschnitten. Braunfleckig und verwesend liegen sie auf dem Boden neben dem Mülleimer. Ich sehe zu, wie ein langes, geschmeidiges Insekt aus einer der Blüten kriecht und unter der Spüle verschwindet. Ich verschließe meinen Mund, um die Worte am Hervorsprudeln zu hindern, und sie schenkt mir ihr süßes Lächeln. Sie hat die schönsten geschwungenen Lippen, die ich je gesehen habe, bis heute. Ihre Oberlippe ist deutlich herzförmig gekerbt und senkt sich dann in einer sanften Kurve zur Unterlippe hinab, um zum Mundwinkel hin wieder leicht aufzustreben. Bewegliche, lebendige Lippen. Wozu brauchte sie Grübchen, wenn sie solch herrlich geschwungene, rosa angemalte Lippen hatte?
    »Wir beide verstehen uns, nicht wahr, Viv? Wir zwei ganz allein, wir haben es doch gut hier.«
    »Erzähl mir die Geschichte von der Prinzessin mit dem langen Haar«, wage ich mich vor.
    Sie lacht, greift nach einer ihrer Locken und streicht mir damit über Wangen und Lippen. »Glaubst du, sie hatte längeres und dichteres Haar als ich?« Sie fährt mit den Fingern durch die Haarpracht, die sich wie ein Wasserfall über ihre Schultern ergießt. Das Licht aus dem Fenster hinter ihr zaubert feurig goldene Reflexe hinein.
    Hätte ich irgendetwas tun können, um den Lauf der Dinge zu verändern? Auch heute noch, nach so langer Zeit, fällt mir nichts ein. Wie hätte ich es bewerkstelligen sollen, in die Fantasie eines anderen Menschen einzudringen und ihm zu erklären, er müsse mit mir in die Realität zurückkehren? Nein. Ich bleibe draußen im Regen stehen, drücke mir die Nase am erleuchteten Fenster platt und frage mich, wie ich in die helle Blase hineinkommen könnte, in der die glücklichen Familien leben. Vielleicht lässt die Prinzessin im Turm eines Tages ihr Haar herunter, und vielleicht darf ich dann hinaufklettern und mich zu ihr und ihrer Familie an den flackernden Kamin gesellen.
    Ich sitze da und nuckele am Daumen. Ihre Worte umschwirren mich und füllen die leere Stelle aus, wo sich mein Herz hätte befinden sollen. Dem Klang ihrer Stimme nach zu schließen ist es eine gute Geschichte. Aber ich höre nicht alles, was sie sagt, denn ich warte darauf, dass das Telefon wieder läutet.
     
    Habe ich die richtige Wirkung erzielt? Oder wirkt die Geschichte übertrieben? Sind vielleicht zu viele Adjektive darin? Ich denke, die wichtigsten Themen habe ich angerissen und eine recht nette Bildersprache gefunden. Sie werden sich noch ein wenig gedulden müssen, ehe Sie deren Bedeutung (wenn es überhaupt eine gibt) und die Verbindung zu künftigen Kapiteln erkennen können. Denken Sie immer daran, dass wir über freie Erfindung reden, über eine Übung in Vorstellungskraft. Und sorgen Sie sich nicht, wenn einiges, was ich aufgeschrieben habe, ein wenig verstörend wirkt: Es ist die Absicht des Autors, den Leser anzurühren und seine Vermutungen und Vorurteile infrage zu stellen. Falls es sich hier um Fiktion handelt … und falls es einen Autor gibt.
     
    Ihr Manuskript liest sich flüssig und zeugt von einer Begabung für treffende Bilder .
    Die Frage nach dem Wo haben Sie ausgezeichnet gelöst , genau wie ich es für den Einstieg angeregt hatte . Die Frage nach dem Wann lässt allerdings noch zu wünschen übrig . Passiert das Ganze in der Gegenwart? In den fünfziger Jahren? Oder vielleicht gar in den Dreißigern? Ich meine , wir sollten vor dem Ende der Einführung eine genauere Vorstellung
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