Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lesereise New York

Lesereise New York

Titel: Lesereise New York
Autoren: Sebastian Noll
Vom Netzwerk:
Demütigung, die sich über Generationen hinweg angestaut hatten.
    Auch mir wurden die Augen feucht, obwohl ich als Deutscher mit dem Joch der schwarzen Amerikaner eigentlich nur wenig zu tun hatte. Mir fiel der Mauerfall ein und dass sich 1989 wohl viele DDR -Bürger auch so ähnlich gefühlt haben müssen. Ich erinnerte mich daran, wie ich damals in Frankfurt spätnachts nach Hause fuhr, das Radio andrehte und den Reportern vom Grenzübergang Bornholmer Straße zuhörte. Doch das erschien damals weit weg, viel weiter weg als das jetzt hier.
    Meine Orientierung damals war in Richtung Westen und nicht in Richtung Osten. Ich war Student der Amerikanistik, hatte bereits ein Stipendium für die New York University in der Tasche und konnte es kaum erwarten, in den Flieger zu steigen, ob nun die Mauer fällt oder nicht. Die Wiedervereinigung feierte ich bereits mit anderen Austauschstudenten am Deutschen Haus der NYU im Greenwich Village.
    Fünfzehn Jahre später zog ich in meine erste Wohnung in Harlem. Die Mieten im Manhattan südlich der 110th Street waren mittlerweile so teuer geworden, dass man sich von einem Reportereinkommen kaum noch ein Zimmer leisten konnte. Die Stadt, die ich einst wegen ihrer Offenheit und Buntheit so geliebt hatte, war fest in der Hand der Banker und der Immobilienmakler. New York war überall immer gleicher und auch ein gutes Stück langweiliger geworden.
    Doch Harlem war noch anders. Die Gentrifizierung hinkte noch um Jahre hinterher. Die Zeiten, in denen man um sein Leben fürchten musste, wenn man in der U-Bahn einschlief und an der 125th Street wieder aufwachte, waren zwar vorbei, die schicken Cafés und die Yoga-Studios waren hingegen noch nicht angekommen. Es war der perfekte Zeitpunkt, um hierherzuziehen, der goldene Moment zwischen lebensgefährlichem Ghetto und unbezahlbarem Luxusdistrikt. Und im Winter 2008 war Harlem wieder einmal ein Ort der Hoffnung, so, wie es das seit mehr als hundert Jahren ist.
    Ironischerweise war es das Platzen einer Immobilienblase zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewesen, das eine Pilgerschaft von Afroamerikanern aus ganz New York in die Gegend nördlich der 110th Street auslöste. Wegen des schon seinerzeit beliebten New Yorker Spiels des Spekulantentums blieben damals die Bauherren auf ihren vornehmen Einfamilienhäusern aus rotem Sandstein, den hübschen brownstones , die heute noch das Straßenbild von Harlem prägen, sitzen. Weil der Bau der U-Bahn sich verzögerte, blieben die weißen Käufer aus, man war dazu gezwungen, Schwarze zu nehmen, die aus den Slums im Süden der Stadt in würdige neue Quartiere ziehen konnten.
    Bald sprach es sich im ganzen Land herum, dass Schwarze im Norden von New York eine anständige bürgerliche Existenz führen konnten, eine Existenz, wie sie damals für Afroamerikaner nirgendwo anders im Land möglich war. Das Wort vom schwarzen Mekka wurde geprägt. Bis in die dreißiger Jahre kamen knapp hunderttausend Afroamerikaner an der Bahnstation auf der 125th Street an, die meisten aus dem Süden und die meisten mit großen Hoffnungen. Harlem wurde zur Hauptstadt des schwarzen Amerika, schwarze Musik, Kunst und Literatur konnten hier gedeihen, schwarze Intellektuelle und Politiker wie Marcus Garvey und W.E.B. Du Bois entwickelten und verbreiteten hier ihre Gedanken und Schriften.
    Doch die sozialen Realitäten waren von Anfang an weniger rosig, als sich das die Migranten vorgestellt hatten, als sie in Georgia und in Mississippi ihr Bündel gepackt und sich auf die Wanderschaft nach Norden gemacht hatten. Auch in New York war Arbeit für Schwarze dünn gesät und schlecht bezahlt und die weißen Vermieter beuteten ihre schwarzen Kunden erbarmungslos aus. So begann mit der Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre der Absturz von Harlem zu einem überfüllten Slum – ein Absturz, der in den siebziger Jahren mit der völligen Verwahrlosung seinen traurigen Tiefstand erreichte. Viele Hausbesitzer brannten damals ihre eigenen Gebäude ab, weil sie so wenigstens noch eine Versicherungssumme kassieren konnten. Die verarmten Bewohner konnten schon lange nichts mehr zahlen, Instandhaltung war unmöglich geworden. Wer konnte, floh aus der Stadt, zurück blieb der soziale Bodensatz – ein toxisches Gemisch aus Drogenkriminalität und Elend.
    Als ich im Jahr 2005 ankam, hatten sich die Dinge jedoch deutlich gebessert. Wie überall in New York hatte in den neunziger Jahren Bürgermeister Giuliani mit seinen rabiaten Polizeimethoden die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher