Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lesereise New York

Lesereise New York

Titel: Lesereise New York
Autoren: Sebastian Noll
Vom Netzwerk:
haben. Die vielen Musiker, die hier in die Gegend gezogen sind, studieren ihre Noten, Studenten basteln an Seminararbeiten, sogar das eine oder andere gedruckte Buch wird hier noch aus der Radkuriertasche gezückt.
    Der Gemischtwarenladen an der Ecke gehört dem Jemeniten Fedel, der rund um die Uhr mit seinen Cousins und Brüdern Kaffee, Bagels, Zigaretten, Sandwiches und Klopapier verkauft. Sie bezeichnen sich als gute Amerikaner und sind jederzeit zu einer Diskussion über den Nahen Osten, Al Kaida, Anti-Islamismus oder Barack Obama aufgelegt. Ein paar Häuser weiter hat Ayten Farell ihren Friseursalon, eine türkischstämmige Deutsche, die einen Harlemer Afroamerikaner geheiratet hat.
    Das Lebensgefühl in Hamilton Heights erinnert ein wenig an das alte East Village der achtziger Jahre, an das Brooklyn der neunziger Jahre, das West Village der vierziger und fünfziger Jahre oder das Chelsea Hotel der siebziger Jahre. Es ist die Art von Urbanität, derentwegen man nach New York gekommen ist und der man hier immer wieder nachstellt, jene Urbanität, die aus einem bunten Bevölkerungsmix entsteht und die jeden Tag überraschende und beglückende Momente gebiert.
    Natürlich weiß ich, dass das nicht anhalten wird. Die ersten Anzeichen einer Wandlung zum Schlechteren sind schon erkennbar. Die Columbia University, die von Morningside Heights aus nach Norden expandieren will, ist dabei, am Broadway im großen Stil Immobilien einzukaufen. Ein Gebäude, das einen Neunundneunzig-Cent-Store und eine Kirche beheimatet hat, wird bereits in ein Studentenwohnheim umgewandelt.
    Ein paar Jahre ist aber gewiss noch Zeit, bis hier die Starbucks und die Gaps ankommen und Hamilton Heights sich in einen Harlem-Themenpark verwandelt. Ein paar Jahre Zeit, um sich den nächsten Schritt zu überlegen.
    Natürlich gibt es bei diesen Überlegungen auch Momente, an denen ich über eine Rückkehr nach Deutschland nachdenke. Es sind diese Momente, in denen einen alles hier überwältigt, der ständige Kampf, der nie zu enden scheint und der bisweilen eine Sehnsucht nach geordneter Friedlichkeit mit gesetzlicher Krankenversicherung gebiert.
    Aber dann gibt es auch wieder diese Momente. Ein Sommerabend gegen Mitternacht nach einem Abend mit Freunden in Carroll Gardens, unterwegs mit dem Rad auf der Brooklyn Bridge in Richtung Manhattan. Die U-Bahn donnert an dir vorbei, vor dir funkeln die Lichter der großen, großen Stadt. Du rauschst auf sie zu, tauchst in sie ein, wirst eins mit ihr. Eine Euphorie überkommt dich, eine Euphorie, wie sie nur diese bipolare Stadt erzeugen kann.
    Wenn man dann mit dem Verkehrsstrom die Sixth Avenue hinaufschwimmt, kann man sie in jeder Körperfaser spüren, die sprichwörtliche Energie dieser Stadt, die aus dem Wahnsinn ihrer überwältigenden Dichte, aus ihrer Ambition, aus ihrer Maßlosigkeit entsteht. Diese Energie, das wird in solchen Momenten klar, wird überleben. Sie wird überleben, gleich wie stark die Kräfte der Homogenisierung und der Suburbanisierung sind. Das Delirium, das Rem Koolhaas vor vierzig Jahren als den Aggregatzustand dieser Stadt beschrieben hat, wird sich immer wieder Bahn brechen und den Triumphzug der generischen Stadt sabotieren. Gleich, wie sehr sich die Vermarkter der New-York-Erfahrung Mühe geben, die Stadt auszunüchtern.

Nachsatz
    Ich habe die Mehrzahl der Geschichten in diesem Buch zwischen 2004 und 2012 als Korrespondent für die Tageszeitungen des DuMont-Verlags, die Berliner Zeitung , die Frankfurter Rundschau und den Kölner Stadtanzeiger, recherchiert. Einige von ihnen wurden für diesen Band aktualisiert und erweitert – insbesondere das Kapitel über Harlem und das Kapitel über Lower Manhattan. Das Kapitel über Coney Island erschien zuerst in der taz und wurde ebenfalls aktualisiert. Der Text über den Grand Central Terminal erschien zuerst in der Welt am Sonntag und gewann 2007 den Journalistenpreis Bahnhof. Die Geschichte über den Straßenbasketball in New York erschien in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung . Die Reportage über den schnellsten Fahrradkurier New Yorks erschien zuerst in der Zeitschrift Mobile Next und wurde ebenfalls für dieses Buch ergänzt. Das einleitende und das abschließende Kapitel wurden eigens für diesen Band geschrieben.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher