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Lesereise New York

Lesereise New York

Titel: Lesereise New York
Autoren: Sebastian Noll
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Straßen New Yorks allerdings die verschiedensten Formen annehmen. Es kann die Art sein, wie eine Frau über eine Pfütze springt. Es kann ein Prêt-à-porter-Kostüm von Oscar de la Renta sein, das besonders lässig von den Schultern hängt. Es kann ein junger Hip-Hoper sein, dessen Jeans fast in den Kniekehlen hängen. Manchmal kann es sogar ein Müllsack sein, den eine Dame in einem Sturzregen über ihr Kostüm gestülpt hat.
    Bill Cunningham steht jetzt schon seit vierunddreißig Jahren beinahe jeden Tag an der Ecke 57th und Fifth. Seit 1978 fotografiert er für die New York Times Mode. Aber für Cunningham war Mode immer mehr als nur die Inszenierungen der Laufstege. Die fotografiert er zwar auch, aber er interessiert sich vor allem für die Mode der Straße. Er will nicht nur wissen, was sich ein Designer ausgedacht hat, er muss wissen, wie es getragen und kombiniert wird und wie es aussieht, wenn damit zur U-Bahn gehastet wird.
    Cunningham glaubt fest daran, dass nur der die Mode wirklich versteht, der überall hingeht – zu den Laufstegen, zu den Partys und vor allem auf die Straße. Und das tut Cunningham. Unermüdlich. Trotz seiner mittlerweile dreiundachtzig Jahre. Tagsüber steht er hier an der Fifth oder fährt mit seinem alten klapprigen Fahrrad durch Manhattan, immer auf der Jagd nach etwas, das ihm ins Auge springt, »nach irgendeinem wundervollen Paradiesvogel«, wie er sagt. Abends zieht er sich seinen schwarzen Anzug an und besucht die großen gesellschaftlichen Ereignisse der Stadt, die Wohltätigkeitsbälle, die Theaterpremieren, die Vernissagen. Und im Sommer fliegt er zu den Modewochen nach Mailand und Paris, »um das Auge zu schulen«, wie er sagt.
    Dort sitzt er dann am Rand der Laufstege mit seiner alten Kleinbildkamera, nicht am Ende, wo sich die Meute der Kollegen mit ihrem modernen Equipment und den langen Linsen versammelt haben. Er schießt die Models wie die Frauen auf der Straße, im Vorbeigehen, damit er die Linien der Kleider sieht, damit er sieht, wie sie fallen und fließen. Wenn ihm nichts gefällt, lässt er die Kamera liegen, es kommt vor, dass er während einer gesamten Schau nicht ein einziges Bild macht.
    Manchmal ist er jedoch auch der Einzige, der den Apparat ans Auge hebt. Und deshalb kann es die Modewelt am nächsten Tag gar nicht erwarten, die Times mit dem Bilderbogen von Bill Cunningham in die Finger zu bekommen. »Er hat ein untrügliches Gespür dafür, was funktioniert, was ein Trend werden könnte«, sagt Harold Koda, der Direktor des renommierten Costume Institute am Metropolitan Museum über Cunningham.
    Bill Cunningham ist ein Kauz, ein Außenseiter selbst in der exaltierten Modewelt. Es kommt nicht selten vor, dass Türsteher dem alten Mann, der mit seiner blauen Arbeiterjacke aussieht wie ein besserer Stadtstreicher, den Zugang zu den Modeschauen verweigern. Und doch verehrt man ihn in dieser Welt. »Für jeden, der weiß, wofür Bill steht, ist es eine Ehre, von ihm fotografiert zu werden«, sagt Vogue -Chefredakteurin Anna Wintour. »Schlimm ist nur, wenn er einen ignoriert. Das ist der Tod.«
    Doch darüber kann sich die Wintour nicht beklagen. Cunningham schießt sie, seit sie neunzehn ist – während sie die Fifth Avenue auf- und abflaniert, auf Galas und Partys, auf Modeschauen. Es ist ein Kompliment an ihren Geschmack, und das weiß sie auch. Cunningham gilt als der Mann mit dem untrüglichen Instinkt für Linie, für Farbe, für Schnitt, für Kontur. Einen Instinkt, den er sich vor allem auf den Straßen New Yorks geholt hat.
    Dabei war Cunningham ursprünglich gar kein Mann der Bilder. Nach seinem Militärdienst in den fünfziger Jahren, der ihn nach Frankreich führte, lebte der Studienabbrecher als Bohemien und Tausendsassa in New York. Er entwarf Hüte und er schrieb für die Chicago Tribune und für Women’s Wear Daily über Mode. Bis ihm eines Tages sein Freund, der englische Fotograf David Montgomery, eine Kleinbildkamera schenkte, eine Olympus für neununddreißig Dollar. »Benutze sie wie einen Kuli, um Notizen zu machen«, sagte Montgomery.
    Cunningham nahm sich den Rat zu Herzen und zog los und seither kann er nicht mehr davon lassen. »Es war ein perfekter Moment damals«, sagt Harold Koda. »In den frühen sechziger Jahren begannen die Leute in New York überhaupt zum ersten Mal, sich im Alltag interessant zu kleiden. Das, was wir heute als street fashion bezeichnen, gab es vorher nicht.« Und Bill Cunningham war von Anfang an dabei,
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