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Lesereise New York

Lesereise New York

Titel: Lesereise New York
Autoren: Sebastian Noll
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als sich noch kein anderer für die Straße interessierte und es den Begriff Prêt-à-porter noch nicht gab.
    Cunningham fotografierte die Rocker und die Hippies, die Nachtclubszene und die Avantgardekünstler, die Prostituierten am Times Square und die Society-Ladys. Er fotografierte Andy Warhol und Grace Jones, Liz Taylor und die Ramones und Tausende von namenlosen Schönheiten, wenn sie sich nur interessant anzogen.
    Es war wie ein Rausch, Tag und Nacht war er unterwegs und daran hat sich bis heute nichts geändert. Seine Kolumne in der Times wurde zum Kult und das Magazin Details , das ihm pro Ausgabe bis zu hundert Seiten zur Verfügung stellte, wurde zur ikonischen Publikation der achtziger Jahre.
    Cunningham war ausgezogen, um Kleider zu fotografieren. Mehr und mehr entwickelte er sich jedoch ganz unfreiwillig auch zum Kulturanthropologen und zum Chronisten. »Er hat das Leben dieser Stadt dokumentiert. Er hat aufgezeichnet, was uns als New Yorker ausmacht«, sagt Harold Koda.
    Bei all dem blieb Bill Cunningham selbst jedoch immer anonym, er war der unbekannteste Prominente von New York. Wie ein Gespenst tauchte er mit seinem Fahrrad auf, fotografierte und verschwand wieder und niemand wusste, wohin. Selbst die Menschen, die eng mit ihm zusammenarbeiteten, hatten keine Ahnung, wo er lebte und was er trieb, wenn er nach Hause ging.
    Richard Press, seinem Assistenten bei der New York Times , ließ diese Frage keine Ruhe. Schon bald, nachdem er angefangen hatte, Cunninghams Filmrollen ins Labor zu bringen und sich dem Geduldsspiel der Bildauswahl für die Zeitung mit Cunningham zu unterziehen, nahm er sich vor, einen Film über diesen besonderen Mann zu drehen.
    Es dauerte sieben Jahre, bis Cunningham Press an sich heranließ, und selbst dann gab er seine Privatsphäre nur millimeterweise preis. »Cunningham war immer kurz davor, das Projekt wieder abzubrechen und uns zum Teufel zu jagen«, erzählt Press bei einem Kaffee im New Yorker Meatpacking District. »Der Film stand bis zum Schluss immer auf der Kippe.«
    Auf den ersten Blick war das, was Press entdeckte, enttäuschend. Cunningham hat kein Privatleben. Er lebt alleine in einer winzigen Künstlerwohnung. Das Bad ist auf dem Flur, eine Küche gibt es nicht, dafür ist jeder Zentimeter mit Aktenschränken vollgestellt. Negative und Abzüge aus einem halben Jahrhundert. Seine Garderobe hängt auf Bügeln an den Griffen der Schränke, irgendwo ist eine kleine Matratze dazwischengequetscht.
    Cunningham ist nicht verheiratet, hat noch nie eine »romantische Beziehung« gehabt, wie er in einem beklemmenden Interview dem Filmemacher gesteht. Er geht nicht aus, er kauft nicht ein, er braucht nur den blauen Arbeitskittel auf seinen Schultern, seine Kamera, sein Fahrrad und ab und zu ein Sandwich und einen Kaffee aus dem Schnellrestaurant nebenan; und die Kirche, die er jeden Sonntag besucht, nachdem er sechs Tage lang an seinem Bilderbogen für die Wochenendausgabe gebastelt hat.
    Das klingt zunächst nach einer furchtbar traurigen und einsamen Existenz. Doch Press fand in dieser scheinbaren Tristesse einen ungeheuren Reichtum. Bill Cunningham, das spricht aus jeder Szene des faszinierenden Films, ist ein zutiefst glücklicher Mensch.
    So erleben wir in einem Ausschnitt Cunningham auf einem Empfang des französischen Kulturministers. Er schlängelt sich wie immer durch die Menge, plaudert ein wenig mit den Leuten, knipst diesen und jenen. Erst spät erfahren wir, dass dieser Empfang ihm gilt, dass er für seine Verdienste um die Mode einen Orden verliehen bekommen hat.
    In seiner Dankesrede stottert Cunningham zuerst herum, springt abrupt und etwas wirr zwischen Französisch und Englisch hin und her. Doch dann fällt ihm ein, was er wirklich sagen möchte, was er schon immer sagen wollte. »Derjenige, der Schönheit sucht, wird sie auch finden«, sagt Cunningham und ihm laufen dabei die Tränen aus den Augenwinkeln.
    In diesem Moment begreift man Cunningham, und es steigt einem unweigerlich selbst das Wasser in die Augen. Bill Cunningham hat eine höhere Daseinsstufe erreicht als wir Normalsterblichen. Er hat sein Dasein in den Dienst eines Ideals gestellt. Er ist ein Hohepriester der Schönheit, ein Hohepriester in einer Müllarbeiterjacke.
    »Er ist frei«, sagt Richard Press zum Ende unseres Gesprächs und man spürt dabei, wie gerne er auch so wäre wie Bill Cunningham. Tag für Tag auf der Suche nach Schönheit auf einem alten Fahrrad durch die Straßen
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