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Lesereise New York

Lesereise New York

Titel: Lesereise New York
Autoren: Sebastian Noll
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Manhattans zu ziehen, so lange, bis die Sonne im Hudson versinkt, ohne Sorge um Geld, Status, Erfolg, Anerkennung, all die Dinge, mit denen andere sich täglich mühen. Was für ein Leben.

Epilog
    New York ist vermutlich die beliebteste Filmkulisse der Welt. So viel wird hier gedreht, dass die meisten New Yorker es nur als Ärgernis empfinden, wenn in ihrer Nachbarschaft wieder einmal tagelang eine Straßenhälfte von Kamerakränen und Filmscheinwerfern versperrt ist und die Lastwagen für die Filmtechnik, die Maske und das Catering die Parkplätze wegnehmen.
    Hier oben in Hamilton Heights, am Nordrand von Harlem, ist es jedoch noch immer eine Sensation, wenn die Kameras kommen. Als im vergangenen Jahr eine Crew wochenlang die 151st Street mit Beschlag belegte, war der ganze Block in hellem Aufruhr. Was sollte das wohl für ein Film werden, der hier spielt, mitten im Ghetto, wo sich nicht selten der Müll auf dem Bordstein türmt, wo mehr oder weniger offen Drogen gedealt werden und wo an warmen Tagen bis in die Morgenstunden lauter Hip-Hop aus offenen Autotüren dröhnt.
    Die Antwort kam ein knappes Jahr später, als in allen Läden und Hauseingängen der Nachbarschaft Flugzettel mit einer Einladung zu einer Vorführung in einem kleinen Programmkino im East Village auslagen. »Welcome to Harlem« hieß der Streifen, das Erstlingswerk von Mark Blackman, einem jungen Filmemacher, der seit vier Jahren hier in der 151st lebt.
    Natürlich haben wir Bewohner der 151st es uns nicht nehmen lassen, uns das Werk anzusehen. Der Nachbar Blackman, den ich bis dahin nur vom Sehen kannte, erzählt darin seine eigene Geschichte. Es ist die Geschichte eines jungen, energiegeladenen Mannes, der nach New York kommt, um als Filmemacher Karriere zu machen. Doch die Realität der Stadt dämpft schnell seinen Enthusiasmus. Die Zeiten, in denen man sich als mittelloser Künstler in New York ausprobieren konnte, waren lange vorbei, die Stadt war so teuer geworden, dass man es sich nicht einmal leisten konnte, seinen Frust in einer Kneipe zu ertränken.
    So landete Blackman, wie viele von uns, in Hamilton Heights, im Ghetto. Anfänglich war ihm hier, wie uns allen, mulmig, er fühlte sich fremd. Doch bald findet der Film-Blackman hier eine wunderbare Gemeinschaft, eine Mischung aus jungen Bohemiens wie ihm und Alteingesessenen, die sich schnell anfreunden und dann gemeinsam gegen die Gentrifizierung und für den Erhalt ihres kleinen Idylls auf die Barrikaden gehen.
    Ganz so heiter und idyllisch wie im Film ist die Realität natürlich nicht. Gleich wie freundlich wir sind und wie sehr wir uns um Integration bemühen, wir werden immer wieder spürbar beargwöhnt. Man versteht hier durchaus die Dynamik der Gentrifizierung. Die Menschen begreifen, dass die Ankunft der Kreativen der Vorbote der Verdrängung ist.
    Andererseits hat Mark natürlich recht. Es ist ein guter Moment für unsere Nachbarschaft.
    Der soziale und ethnische Mix ist gerade genau richtig. Im Apartment über mir wohnen Fabienne und Jody, ein lesbisches Pärchen. Fabienne arbeitet als Neurobiologin an der Uni, Jody ist Fitnesstrainerin und in der Freizeit versuchen sie, ihren gemeinsamen Traum von einem eigenen Modelabel zu verwirklichen. Ihr Nachbar ist Kevan, der die Hälfte des Jahres die Welt per Fahrrad bereist und sich die andere Hälfte des Jahres als DJ in einem Stripclub am Times Square das Geld dafür verdient. Direkt neben mir wohnt eine dominikanische Familie mit drei Kindern. Im fünften Stock wohnt eine Familie von der Elfenbeinküste mit zwei bildhübschen Töchtern im Teenageralter. Dazwischen wohnen zwei alteingesessene afroamerikanische Familien.
    An warmen Sommertagen verlagert sich das Leben, wie das seit Jahrzehnten in Harlem der Brauch ist, auf die Straße. Die Kinder kühlen sich im Strahl der Hydranten ab, Jugendliche werfen einander auf der Straße einen Football zu, Erwachsene sitzen auf mitgebrachten Klappstühlen zusammen und unterhalten sich. Der Geruch von Grillanzünder weht dann durch mein Fenster und gibt mir das besänftigende Gefühl, dass hier nicht, wie überall anders in Manhattan, die Nachbarschaft für die Menschen nur der Ort ist, wo sie zufällig eine Wohnung gefunden haben.
    Das neue Café um die Ecke auf dem Broadway ist immer voll, die junge schwarz-weiße Boheme sitzt emsig an ihren Laptops. Man trifft die immer gleichen Stammkunden, die den Tiefparterreraum mit seinen Sperrmüllmöbeln zum zweiten Wohn- und Arbeitszimmer gemacht
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