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Lesereise New York

Lesereise New York

Titel: Lesereise New York
Autoren: Sebastian Noll
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Island, der Steeplechase, nieder. Es war der letzte Meilenstein des Abstiegs Coney Islands zu jenem armseligen Überrest seiner glamourösen Vergangenheit, der es heute ist.
    Der einst weltberühmte, meilenlange Amüsierstreifen entlang des boardwalk ist auf gerade einmal vierhundert Meter zusammengeschrumpft. Da ist im Westen an der 17th Street die vernagelte Ruine des ehemals vornehmen Child’s Restaurant, an deren löchriger Fassade früher prachtvolle bunte Terrakotta-Ornamente vergessen vor sich hinbröseln; dann kommt die Reihe von einem halben Dutzend baufälliger Backsteinbuden, deren rührend dilettantische, von Hand gemalte Schilder Bier, Eis, Fritten und frische Muscheln anpreisen.
    Dahinter steht das alte Riesenrad und die beängstigend knarzende, achtzig Jahre alte Cyclone-Achterbahn; dazwischen liegt viel Brachland mit efeu- und graffitiübersäten Mauerresten. Auf einem der leeren Grundstücke hat die Stadt ihre reparaturbedürftigen Schulbusse geparkt.
    Immerhin gibt es seit 2010 auch wieder Rummelbetrieb hinter dem Strand. Der alte Luna Park hat mit nostalgischen Attraktionen wie Karussells, Hau den Lukas und Büchsenwerfen wieder eröffnet. Daneben stehen im Screamland zwei nagelneue, hochmoderne Hochgeschwindigkeitsachterbahnen, in denen man sich bis zur Übelkeitsgrenze drehen und rütteln lassen kann. Weiter in Richtung Westen an der Surf Avenue entlang ist das Gerüst des alten Parachute Jump restauriert worden, von dem man sich einst mit Fallschirmen an einer Leine aus dreißig Metern Höhe in den Sand stürzen konnte. Und daneben hat die Baseballmannschaft Brooklyn Cyclones 2002 ein brandneues Stadion am Strand bekommen.
    Es ist der zarte Beginn einer Coney-Island-Renaissance. Im Vergleich zum ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, als die legendären Amüsierparks Astroland, Luna Park, Dreamland und Steeplechase Coney Island zur Weltsensation gemacht hatten, wirkt es jedoch noch immer wie ein trauriger Abklatsch. Coney Island war das Las Vegas und das Disney World jener Zeit in einem. Hier gab es Attraktionen, die die Menschheit noch nicht gesehen hatte, und das alles nur eine Fünf-Cent-Bahnfahrt vom Times Square entfernt.
    Da war die Loop-the-Loop, die erste Achterbahn der Welt; der Steeplechase – ein gigantischer Rennparcours für mechanische Pferde; da waren die beliebten freak shows mit bärtigen Frauen, schrumpfköpfigen »Negern« und doppelköpfigen Schafen; da gab es den Love Barrel – wo Männer und Frauen so hin- und hergerollt wurden, dass sie aufeinander fallen mussten; es gab Schwimmbäder, ein künstliches Venedig; und es gab im Dreamland die erste skyline der Welt mit einem Wald von exotischen, elektrisch erleuchteten Mini-Minaretten, Zinnen und Türmen. Rem Koolhaas nannte in »Delirious New York« das Coney Island von damals eine Art »Prototyp« von Manhattan, wo im Kleinformat die Technologien, Themen und Mythen ausprobiert wurden, die später das New York des 20. Jahrhunderts prägen sollten.
    Zu Beginn war dieses Wunderland ein Faszinosum für die feine Gesellschaft von Manhattan. Doch schon in den dreißiger und vierziger Jahren, als das moderne Manhattan erwachsen wurde und es in der Stadt selbst genügend Stimulation für die Betuchten gab, wandelte es sich zu dem, was es seither ist – zum Paradies der einfachen Leute. Damals waren es vor allem die irischen, deutschen und osteuropäischen Einwanderer aus den Elendsquartieren auf der Lower East Side, die es hier heraus zog.
    Heute sind es Latinos, Asiaten, Schwarze und Araber aus Brooklyn, die am Wochenende auf Coney Island in der Sonne liegen, den boardwalk rauf- und runterflanieren, Hotdogs essen und Bier trinken. Doch im Prinzip hat sich nichts geändert – wie damals verstopfen die unteren Zehntausend am Samstagmittag die U-Bahn-Linien F und Q an die Stillwell Avenue, wo die Gleise nur hundert Meter vom Strand entfernt abrupt enden.
    Den Stadtplanern war dieser Pfuhl der vulgären Massenunterhaltung schon in den vierziger Jahren ein Dorn im Auge. Der legendäre Meisterbauherr Robert Moses, der jahrzehntelang aus dem chaotischen, wuseligen New York eine sauber geordnete, hochmoderne Stadt machen wollte, plante deshalb in Coney Island eine gigantische Sozialbausiedlung, in der die arme Bevölkerung von der Lower East Side in bezahlbaren Sozialbautürmen am Meer leben konnte. »Ghetto-Bereinigung« nannte er das Vorgehen, das nicht zuletzt den wertvollen Manhattaner Baugrund für lukrativere Investitionen frei
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