Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lesereise New York

Lesereise New York

Titel: Lesereise New York
Autoren: Sebastian Noll
Vom Netzwerk:
Musik und Menschen in ihrer Wohnung brauchte – sie lud sich das Leben zu Gast.
    »Ich danke euch allen«, wendet sie sich jeden Sonntag am Ende des Konzerts gerührt an ihr Publikum. »Ich brauche euch zum Überleben.« Jeder, der über ihre Schwelle tritt, wird deshalb, wie Marjorie versichert, automatisch Teil der Familie.
    Marjorie Elliot ist so etwas wie die verkörperte Seele des Jazz. Wie bei den legendären Jazz-Begräbnissen in New Orleans treffen in Marjories Wohnzimmer das Leben und der Tod friedlich zusammen, setzen sich nebeneinander auf einen blechernen Klappstuhl und lauschen einträchtig dem Blues. Der New Yorker in New Orleans lebende Autor Tom Piazza hat es einmal als Essenz des Jazz beschrieben, dass in ihm Trauer zum Teil des Lebens wird, in einer Art, die den Tod nicht negiert oder ausblendet, sondern vielmehr als Verpflichtung zum Weiterleben umdeutet. »Es ist eine Art«, so Piazza, »dem Einzelnen und der Gemeinschaft zu ermöglichen, mit Würde und Stil auch unter den schlimmsten Umständen weiterzumachen.«
    Genau das ist der Geist der Sessions bei Marjorie, ein Geist, der bei einem Fünfzig-Dollar-Gedeck in den vermeintlichen Traditionsclubs von Manhattan wie dem Village Vanguard oder dem Blue Note schon lange verloren gegangen ist. Und noch etwas ist dort verloren gegangen, was bei Marjorie in Harlem noch lebt: Die Schwärze des Jazz. »Wir feiern hier zusammen eine Musik, die aus der Agonie der Sklaverei geboren wurde«, sagt Marjorie in einer kurzen Rede, bevor sie sich an der Wohnungstür bei jedem einzelnen Gast, schwarz oder weiß, innig verabschiedet und bedankt. »Wir feiern die afrikanische Klassik, die so stark war, dass sie jede Unterdrückung überdauerte.«
    Im Jazz findet das schwarze Amerika seit Jahrhunderten die spirituelle Kraft, alle Demütigungen und Grausamkeiten des Lebens in Gefangenschaft und Unterdrückung zu überstehen. Und wie ihre Vorfahren sucht und findet auch Marjorie im Jazz Kraft und Sinn. »Das hier ist mein Lebensinhalt«, sagt die zierliche kleine Frau, nachdem die Gäste alle weg sind und sie im Halbdunkel ihrer blaugrünen Zimmerbeleuchtung zwischen den Klappstühlen in der Ecke sitzt und noch einen Cider trinkt. »Ich bin auch nicht traurig«, fügt sie an. Und das, obwohl sie vor drei Jahren noch einen zweiten ihrer fünf Söhne verloren hat. Wie um ihr zu widersprechen kullern trotzdem Tränen die Backe hinunter, als wir uns verabschieden. »Das ist Glück und die Dankbarkeit für eure Zuwendung«, entschuldigt sie sich. Dann schließt sie die Tür von 3F und ist wieder allein, mit sich, mit ihrer Familie, ihrem echten und adoptierten Sohn, mit Bob und den anderen Musikern und vor allem mit ihren Dauergästen, der Freude und dem Schmerz.

Der Himmel der einfachen Leute
Coney Island ist die letzte Bastion der Proll-Kultur in New York
    Unter dem boardwalk türmt sich der Sand, gespickt mit Papptellern, Bierbüchsen und vereinzelten Flecken von Dünengras. Ein Zaun sorgt seit einiger Zeit dafür, dass der legendäre New Yorker Strand von Coney Island hier Halt macht und nicht mehr in die Straßen des äußersten New Yorker Stadtbezirks hinausweht.
    Aber der Zaun sorgt auch dafür, dass es unter dem boardwalk heute nicht mehr so zugeht wie vor vierzig Jahren, als die Rockabilly-Truppe The Drifters ihren berühmten Sommerhit über den boardwalk schrieb. Zu Tausenden suchten damals junge Pärchen auf den zwei Meilen zwischen Coney Island und Manhattan Beach unter den Brettern Schutz vor der Sonne sowie ein klein wenig Privatsphäre, krochen unter ein Handtuch und ließen zum Geruch von Hotdogs und zum Klackern der Fußabsätze über ihnen ihrer jugendlichen Lust freien Lauf. »Under the boardwalk – out of the sun/ Under the boardwalk – we’ll be having some fun/ Under the boardwalk – people walking above/ Under the boardwalk – we’ll be falling in love …«
    Unter dem boardwalk fand damals das frivole Treiben von Coney Island seinen sommerlichen Höhepunkt und mancher New Yorker Teenager die Liebe fürs Leben. Heute verirren sich hingegen höchstens noch streunende Hunde und Obdachlose unter die Bretter.
    Bill Pinkney starb als letztes Mitglied der »Original Drifters« am 4. Juli 2007, einundachtzigjährig, in einem Hotelzimmer in Daytona Beach in Florida, weit weg von New York. Das Coney Island der fünfziger Jahre, das er 1964 besang, war da schon lange tot. 1966 brannte der letzte der ursprünglich drei großen Vergnügungsparks von Coney
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher