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Lesereise New York

Lesereise New York

Titel: Lesereise New York
Autoren: Sebastian Noll
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Ortes, von der jeder Besucher der letzten hundert Jahre geschwärmt hat. Und dieses alte New York des 20. Jahrhunderts ist auch noch nicht ganz verschwunden. Es existiert noch an den vermeintlichen Rändern der Stadt, in Harlem etwa, wo der Kampf gegen die Gentrifizierung noch nicht entschieden ist, in Coney Island, das um seine Identität als Himmel der einfachen Leute ringt, oder auch in der Gegend rund um das World Trade Center, das seit dem 11. September 2001 ein Schlachtfeld all jener Kräfte ist, die ein leidenschaftliches Interesse an der Zukunft der Stadt haben, von den Immobilienmogulen über die Politiker bis hin zu den »Occupy«-Demonstranten, die das scheinbar Unaufhaltsame stören und sabotieren, so gut sie können.
    Diese Orte und diese Menschen fesseln mich, seit ich wieder in New York bin. Von ihnen handelt die Mehrzahl der Geschichten in diesem Buch. Es sind Geschichten eines Übergangs von einer Epoche in eine neue. Es sind Geschichten vom Ringen einer der großartigsten Städte der Welt um ihre Identität.

Across 110th Street
Harlem im Zeitalter Obamas
    Im Schaufenster einer kleinen Wäscherei an der 146th Street in Harlem hängt ein vergilbter Zeitungsausschnitt. Seit vier Jahren klebt er jetzt da, die Farben sind längst verblasst.
    Es ist die Titelseite der New York Daily News vom 21. Januar 2009. Darauf zu sehen sind Michelle und Barack Obama, wie sie während der Inaugurationsfeierlichkeiten in Washington strahlend der Menge zujubeln. Unter dem Foto steht in riesigen Lettern »A Glorious Beginning«.
    Ich laufe beinahe jeden Tag auf dem Weg von der U-Bahn zu meiner Wohnung in der 151st Street an dem Geschäft vorbei, und jedes Mal muss ich daran denken, wie es war, damals, 2008, als man in jedem Geschäft in Harlem solche Ausschnitte sah und als jeder Barber Shop die blauen Wahlkampfschilder mit dem Aufdruck »Obama-Biden 08« an der Tür hängen hatte.
    Man konnte damals gar nicht genug bekommen von Obama im berühmtesten Schwarzenviertel der USA . Das Gefühl, dass nun wirklich ein glorreiches neues Zeitalter anbricht, lag wie Fliederduft in der Luft. Die Wahl Obamas schien damals ein Signal zu sein, dass die Gleichstellung von Schwarz und Weiß erstmals in der amerikanischen Geschichte mehr ist als nur ein Lippenbekenntnis. Es war ein Hoffnungsschimmer, dass die Versprechen der amerikanischen Verfassung nun endlich auch für Afroamerikaner gelten, dass sie wie jeder andere am amerikanischen Traum teilhaben können.
    Vier Jahre später, im Herbst 2012, waren die Plakate längst wieder aus dem Straßenbild von Harlem verschwunden. Von der Wiederwahlkampagne des Präsidenten war praktisch nichts zu sehen. Der Enthusiasmus für Obama von 2008 schien unter der schwarzen Bevölkerung endgültig verpufft zu sein.
    Die Dinge in Harlem gingen ihren Gang, als wäre nichts geschehen. Weite Teile des Viertels waren das gleiche Ghetto, das sie schon immer waren, jenes traurige »Symbol der ewigen Entfremdung des schwarzen Mannes im Land seiner Geburt«, das der Harlemer Schriftsteller Ralph Ellison schon 1948 beschrieb. An den Straßenecken lungerten wie immer arbeitslose Jugendliche herum und verdienten sich mit Drogendeals ein paar Dollar. Mädchen, die viel zu jung waren, um Mütter zu werden, schoben Kinderwagen vor sich her. Die oft kümmerlichen kleinen Gemischtwarenläden zeigten mit großen Pappschildern an, dass sie Lebensmittelmarken nehmen, der Ladenbesitzer war oft durch eine dicke Plexiglasscheibe vor Pistolenkugeln geschützt.
    Jede Woche war in den New York Amsterdam News , der fünfundneunzig Jahre alten Stadtteilzeitung, zu lesen, dass in den Sozialbausiedlungen wieder junge schwarze Männer gestorben sind, meistens von der Hand anderer junger schwarzer Männer. Die Schüsse, die nachts das laute Treiben und die Musik auf der Straße durchschnitten, waren so alltäglich, dass man sie kaum mehr beachtete.
    Gleichzeitig kroch von der 110th Street aus unaufhaltsam die Gentrifizierung in Richtung Norden. Am Frederick Douglass Boulevard, wo vor zehn Jahren noch heruntergekommene oder leer stehende Mehrfamilienhäuser standen, waren dank Rezoning -Beschlüssen Harlemer Politiker – der Aufhebung von Nutzungsbeschränkungen – fünfzehn- bis zwanzigstöckige Glashochhäuser mit Luxuswohnungen entstanden, Fitnessstudio und Portierservice inklusive.
    Neue Restaurants wie das Red Rooster des Starkochs Marcus Samuelsson bedienten die Zugezogenen, die gut verdienende Oberschicht, die schon
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