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Lesereise New York

Lesereise New York

Titel: Lesereise New York
Autoren: Sebastian Noll
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gewaltsam geräumt. Die Punks und Anarchos gaben sich nach einer mehrtägigen Straßenschlacht geschlagen. Ich kann mich noch an die Feuer erinnern, die in diesen Tagen auf der Avenue B brannten und an die Trommeln im Park, die ich in meiner Wohnung an der 11th Street hörte und die dann über Nacht plötzlich verstummten. Mit dem letzten Paukenschlag am Tompkins Square begann die Gentrifizierung des East Village und in dessen Folge ganz Manhattans – jener Prozess, der im heutigen Times Square und in der John-Varvatos-Boutique mündete.
    Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass sich kaum etwas geändert hatte, als ich 2002 nach beinahe zehn Jahren erstmals wieder durch die Straßen des East Village lief. Am St. Mark’s Place gab es noch immer die gleichen Tattoo-Läden, das Life Café am Tompkins Square war noch immer der beliebteste Brunch-Spot für die Punk-Bands, die in den Clubs des Viertels spielten. Das Love and Coffee an der Second Avenue verkaufte noch immer den gleichen Hippie-Kitsch wie zehn Jahre zuvor und sogar das Odessa gab es noch. Das Einzige, was sich geändert hatte, war, dass ich nun nicht mehr dreihundert Dollar für eine heruntergekommene, aber geräumige Wohnung bezahlte, sondern zwölfhundert Dollar für ein fensterloses Zimmer.
    Die Gentrifizierung von New York, jene Amöbe, die sich immer weiter auch noch in die letzten Außenbezirke ausbreitet, vollzieht sich nach dem Muster John Varvatos. In der Stadt, die sich einst durch ihren Willen auszeichnete, immer wieder Tabula rasa zu machen und von vorne anzufangen, ist die Zeit scheinbar stehen geblieben. Jedes Viertel, so scheint es, sucht sich seine glanzvollste Epoche aus und versucht, diese als zuverlässige Erfahrung für die Besucher zu konservieren: Die Subkultur-Tage des East Village, die Boheme-Jahre der dreißiger und vierziger Jahre im West Village, die glanzvollen Theater- und Revue-Tage am Times Square. Jeder Stadtteil ist eine Marke mit einer leicht identifizierbaren Identität, die sich Wohnungskäufern und Touristen durch Slogans und Bildklischees rasch vermitteln lassen. Viertel mit einem schlechten Ruf, wie etwa Hell’s Kitchen, werden flugs umbenannt – das einstige irische Arbeiterviertel heißt heute vornehm Clinton Hill.
    Es war eine ernüchternde Erfahrung, nach und nach zu begreifen, was aus dem New York geworden war, nach dem ich mich zehn Jahre lang in Deutschland gesehnt hatte, jenes New York der späten achtziger Jahre, das gefährlich und überwältigend war, aber auch offen und frei. Aus jener Stadt, in der niemand ein Außenseiter war, weil jeder ein Außenseiter war, jenes Sammelbecken für Leute, die zu anders waren, um anderswo zurechtzukommen. Aus jenem New York, wo es so viele Lebensstile und Lebensentwürfe gab wie Bewohner.
    Natürlich bin ich mir bei aller Nostalgie nach dieser Zeit der Tatsache bewusst, dass es problematisch ist, diese Zeit zu verklären. Der Journalist Justin Davidson hatte sicherlich recht, als er 2008 im New York Magazine schrieb: »Wollen alle die, die sich so leidenschaftlich nach dieser Zeit sehnen, wirklich die verkohlte Bronx der achtziger Jahre wiederhaben? Wollen sie wieder die verwüsteten Nachbarschaften Brooklyns zurückhaben und die vernagelten Wohnhäuser in Harlem?«
    Jeder Stadtsoziologe, der eine weitere historische Brennweite hat, wird einem erklären, dass diese Zeit nur eine Übergangsphase von der industriellen zur postindustriellen Stadt war, eine Phase, die nicht andauern konnte und deren Chaos ebenso destruktiv war wie produktiv. Und doch kann man sich am neuen Times Square oder im neuen East Village dem Gefühl nicht entziehen, dass mit ihrem Ende etwas Wesentliches verloren geht.
    New York droht sich in ein vermarktbares Produkt, in ein Klischee zu verwandeln – in jene Dystopie der »generischen Stadt«, die Rem Koolhaas schon zu Beginn der neunziger Jahre vorhersagte. Die generische Stadt ist eine Stadt »ohne Geschichte und Identität, ein Ort gedämpfter Sinneswahrnehmungen und erstorbenen Straßenlebens«, schrieb Koolhaas damals. Oder, wie die Stadtsoziologin Sharon Zukin es ausdrückt, ein Ort, an dem unsere Selbstwahrnehmung von unserer Erfahrung eines realen urbanen Raumes losgelöst ist. Die Nachbarschaften werden gleichförmig und beliebig, man weiß im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr, wo man ist.
    Das ist das Gegenteil dessen, was die Hauptstadt der Moderne einmal ausgemacht hat – jene überwältigende Sinneserfahrung eines unbarmherzig realen
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