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Lesereise New York

Lesereise New York

Titel: Lesereise New York
Autoren: Sebastian Noll
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längst das übrige Manhattan unterhalb der 110th Street dominierte. Schwarzes Leben war dort nur noch animierendes Dekor – es gab Jazzbrunches im Stil der Harlem Renaissance und an der Wand hingen Sepia-Fotos von Billie Holliday und Duke Ellington. Die alteingesessenen Harlemites , die sich hier vermutlich nicht einen einzigen Drink leisten könnten, standen abends oft auf der anderen Straßenseite und betrachteten das seltsame Spektakel mit einer Mischung aus Faszination und Befremdung.
    Das schwarze Mekka Amerikas kämpfte weiterhin mit immensen sozialen Problemen – der Aufbruch in eine neue Zeit war ausgeblieben. Und natürlich war es damals naiv zu glauben, dass über Nacht alles anders wird; dass sich die Lage der Schwarzen, die seit ihrer Verschiffung in die Häfen Amerikas auf der untersten Stufe der amerikanischen Gesellschaft kleben, schnell und drastisch ändert.
    Die Wäscherei mit der vergilbten Zeitungsseite wirkte zum Ende von Obamas erster Amtszeit wie ein stures Festhalten an einer längst enttäuschten Hoffnung. Wie ein Fossil aus einer untergegangenen Epoche ließ sie jene Tage noch einmal auferstehen, als alles möglich schien und als Harlem das Gefühl hatte, es habe die ganze Welt auf seiner Seite.
    Eigentlich wollte ich in der Nacht vom 4. November 2008 zuerst gar nicht nach Harlem fahren. Meine Freunde Sari und Julian hatten zu einer Wahlparty bei sich zu Hause an der Upper West Side geladen. Ich hätte den Abend bequem dort verbringen können, unter meinen weißen linken New Yorker Freunden, denen acht Jahre lang unter George Bush ihr Land fremd geworden war und die nun die Gelegenheit sahen, sich endlich in Amerika wieder zu Hause zu fühlen.
    Aber ich merkte schon bald, dass es mich nicht dort hielt. Nicht in dieser Nacht. Ich wollte nach Harlem. Ich wollte dort sein, wo die Wahl Obamas das Ende einer Reise markierte, die nicht Jahre gedauert hat, sondern Jahrhunderte. Ich wollte mit den Menschen zusammen sein, für die die Wahl die Einlösung eines Versprechens bedeutete, die man ihnen seit der Unabhängigkeitserklärung vorenthält.
    Als mein Taxi um halb neun an der First Corinthian Baptist Church vorfuhr, war innen die Party schon in vollem Gang. Der Chor und die Band der Kirche heizten der Gemeinde mit R’n’B-Rhythmen ein. Niemanden unter den etwa zweitausend, die hierhergekommen waren, um gemeinsam diese Nacht zu erleben, hielt es in den Bänken, es wurde gesungen und getanzt, mit einer Inbrunst, wie es eben nur Afroamerikaner können, in deren Kirchentradition Musik und Tanz ein Weg sind, Gott zu berühren.
    Sie waren jetzt schon selig, noch bevor der erste Staat ausgezählt war. Harlem glaubte daran, dass Barack Obama in dieser Nacht als erster Schwarzer zum Präsidenten der USA gewählt wird. Dabei hatte gerade Harlem lange an Obama gezweifelt. Erst im letzten Moment war die Wählerschaft hier von Hillary Clinton, die an der 125th Street ihr Büro hat, zu Obama umgeschwenkt. Die Clintons, die immer zu Harlem und zum schwarzen Amerika gehalten hatten, waren eine sichere Größe. Aber dieser junge Senator aus Illinois, wer war der denn eigentlich?
    Eine Zeit lang tobte die unsinnige Debatte, ob Obama denn überhaupt ein richtiger Schwarzer sei. Man sprach dem Sohn eines Afrikaners und einer Weißen ab, sich mit der afroamerikanischen Erfahrung identifizieren zu können, dass er wirklich versteht, wie Menschen in Harlem denken und fühlen.
    Aber auch nachdem man sich dazu durchgerungen hatte, für Obama zu stimmen, nachdem die örtlichen Politiker und Kirchenleute und schließlich auch die Clintons sich hinter ihn gestellt hatten, glaubte auf den Straßen von Harlem noch lange niemand daran, dass er auch gewählt wird. Dass ein Schwarzer tatsächlich Präsident der USA werden kann, das war zu unwahrscheinlich, das entsprach nicht der Lebenserfahrung der Menschen im schwarzen Ghetto.
    Doch jetzt sah alles danach aus, als schaffte es Obama tatsächlich. Das Undenkbare war denkbar geworden. Als gegen einundzwanzig Uhr die ersten Staaten ausgezählt waren und auf dem Großbildschirm hinter dem Altar die Ergebnisse angezeigt wurden, verdichtete es sich langsam zur Gewissheit. Die ganze Kirche bebte jetzt in Ekstase, man hörte überall Halleluja-Rufe. Körper zuckten im Takt der Musik, die Hände in die Luft gestreckt, als könnte man so den Heiland berühren, der in dieser Nacht herabgestiegen zu sein schien. Es entlud sich mit einem Mal der ganze Schmerz und die ganze Last der
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