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Lesereise New York

Lesereise New York

Titel: Lesereise New York
Autoren: Sebastian Noll
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Straßen aufgeräumt und die Kriminalitätsraten dramatisch gedrückt. Die Stadt hatte die meisten leer stehenden Grundstücke, wo sich vorher der Müll über verkohlten Bauresten getürmt hatte, aufgekauft, aufgeräumt und für Pfennigbeträge an investitionswillige Bauherren weitergegeben. Überall wurde gezimmert und saniert, es ging voran mit Harlem.
    Das Haus Nummer 512 151st, in dem ich einen Mietvertrag für das Apartment 3B unterschrieb, war ein Musterbeispiel für diesen Aufschwung. An der Außenmauer des hübschen fünfgeschossigen Klinkerbaus klebt bis heute eine Messingplakette, die an den Tod zweier Feuerwehrleute erinnert. Sie waren 1982 bei dem Versuch vom Dach gestürzt, Bewohner aus dem brennenden Gebäude zu retten.
    Es war ein »heißer Abriss«, wie die damals gängige Praxis des Versicherungsbetrugs genannt wurde. Die 151st gehörte weiland zu den schlimmsten Gegenden der Stadt. Das dreißigste Polizeirevier an der Ecke zur Amsterdam Avenue wurde auch das »Dirty 30« genannt. Die Beamten agierten mehr wie eine Gang als wie Gesetzeshüter. Sie kassierten Schutzgelder von den Ladenbesitzern und Drogendealern und verkauften selbst das Crack weiter, das sie beschlagnahmt hatten.
    1993 wurde das Dirty 30 aufgeräumt und mit ihm die Gegend, in der bis dahin Schießereien auf offener Straße an der Tagesordnung gewesen waren. Bald danach erwarb ein Großinvestor, der solche Grundstücke in ganz Harlem aufkaufte, die Ruine der Nummer 512 und sanierte sie mithilfe aus Steuermitteln finanzierter Billigkredite. Die Auflage dafür war eine Mietpreisbindung für einen begrenzten Zeitraum, ab dem die Mieten dann jedoch langsam auf Marktniveau angehoben werden durften. Es war das übliche Gentrifizierungsmodell für Harlem.
    So kam ich in den Genuss einer hellen, geräumigen Dreizimmerwohnung. Sie war zwar nicht luxuriös ausgestattet, aber ordentlich – neues Parkett, ein brandneues Bad und Thermofenster. Tausendzweihundert Dollar kostete das gute Stück – genauso viel wie ich zuvor im hippen East Village für ein fensterloses Zwölf-Quadratmeter-Zimmer bezahlt hatte.
    Ich war glücklich, ich hatte nach drei Jahren des Vagabundierens von Untermiete zu Untermiete Anker geworfen in New York. Doch das Glücksgefühl war nicht ungetrübt. Es war begleitet von dem ständigen Bewusstsein, im eigenen Viertel ein Außenseiter zu sein. Schließlich war ich einer der ersten Nicht-Schwarzen, die sich hierhertrauten, und wenn man auf die Straße trat, wurde man nie den Gedanken daran los, was die Nachbarn wohl von einem hielten. Sahen sie mich als Eindringling, als einen, der das Viertel für die Investoren sicher macht und die Verdrängung vorantreibt? Oder fand das alles nur in meiner Fantasie statt, und ich war mir des Rassenunterschieds viel bewusster als meine Nachbarn?
    Viele Menschen begegneten mir offen und herzlich, so wie die alte schwarze Frau unter mir, die im Rollstuhl saß und mich im Aufzug immer so überschwänglich begrüßte, als wäre ich ihr Sohn. Oder der Mann, den sie den Cigar Man nennen, der im Sommer den ganzen Tag auf der Treppe vor unserem Haus saß, das Treiben auf der Straße beobachtete und auf den Sonnenuntergang wartete, zu dem er sich pünktlich den Stumpen anzündete, der ihm tagsüber trocken im Mundwinkel hing. Er war immer zu einem Plausch aufgelegt, meistens darüber, wie es früher war in Harlem. Als das organisierte Verbrechen in den sechziger Jahren noch die Straßen regierte, berichtete er, sei alles noch besser gewesen, damals herrschte wenigstens Ruhe und Ordnung. Die Großkriminellen wie Frank Lucas, bekannt aus dem Hollywoodstreifen »American Gangster«, hatten das Viertel im Griff. Die Probleme hätten erst mit der Zersplitterung in tausend gangs und Unter- Gangs angefangen, sagte der Cigar Man dann und nickte dabei in Richtung der Jugendlichen, die immer ein paar Häuser weiter herumlungerten und die sicher nicht nur Gutes trieben.
    Für den Cigar Man war klar, das Problem waren nicht die Weißen, sondern diese Jungs, die durch rote oder blaue Kappen, Stirnbänder und Turnschuhe ihre Zugehörigkeit zu den »Bloods« oder »Crips« oder einer deren Unterorganisationen demonstrierten.
    Doch nicht einmal von deren Seite wehte einem offene Feindseligkeit entgegen, wenn man den Bürgersteig hinunterspazierte. Manchmal grüßten sie sogar höflich. »Wenn du dich um deine eigenen Angelegenheiten kümmerst«, riet mir einmal einer von ihnen, »hast du hier keine
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