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Leo Berlin

Leo Berlin

Titel: Leo Berlin
Autoren: Susanne Goga
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Leo trocken. »Sie erinnern mich jeden Tag daran. Und wenn
     man einen Mitarbeiter wie von Malchow hat, kann man die Arbeit gleich
     allein machen.«
    Sie hob beschwichtigend die
     Hand. »Ich weiß, aber . . . wenn Sie ehrlich sind, ist es auch
     nicht leicht, mit Ihnen auszukommen.«
    Er sah sie überrascht
     an. »Wieso? Sie kommen doch auch mit mir aus.«
    »Darüber wundere
     ich mich jeden Tag.«
    »So frech heute?«,
     fragte er grinsend. »Wissen Sie, warum ich mit Ihnen auskomme?«
    »Weil ich nicht der
     Sohn eines pommerschen Gutsbesitzers bin, der nur aus Spaß zur
     Polizei gegangen ist und eigentlich sein Leben mit Forellenfischen auf dem
     elterlichen Anwesen zubringen könnte«, lautete die
     schlagfertige Antwort.
    »Genau«, sagte
     Leo Wechsler. »Mit Ihrer Beobachtungsgabe sollten Sie Detektivin
     werden.«
    »Um in Warenhäusern
     Frauen aufzulauern, die drei Schichten Unterwäsche tragen? Nein
     danke, da sitze ich lieber vor meiner Schreibmaschine und tippe Ihre
     Berichte«, sagte sie lächelnd und griff in ihre Rocktasche.
     »Nehmen Sie die mit, wenn Sie nach Hause gehen.« Sie hielt ihm
     zwei Zuckerstangen hin.
    Er öffnete den Mund,
     schloss ihn wieder und steckte die Süßigkeiten ein. Beinahe hätte
     er gesagt, die kann ich selber kaufen. Verdammt, warum glaubte er ständig,
     dass alle ihn mitleidig anschauten und sich nur für die Tatsache
     interessierten, dass Kommissar Wechsler verwitweter Vater von zwei Kindern
     war?
    Energisch schlug er den
     Aktenordner zu und schob ihn zur äußersten Ecke des
     Schreibtischs. »Sie haben Recht, ich mache Schluss für heute.
     Und danke für die Zuckerstangen. Wer weiß, wie viel die demnächst
     kosten.« Er zog sein Portemonnaie heraus. »Sehen Sie sich das
     mal an. Geht kaum noch zu bei den vielen Scheinen. Letztens habe ich
     gesehen, wie bei Wertheim jemand mit einem Zehntausendmarkschein bezahlt
     hat.«
    Ursula Meinelt betrachtete
     die Geldscheine in Leos Hand und schüttelte den Kopf. »Ich
     verstehe nicht, wohin das noch führen soll. Wie kommt es, dass unser
     Geld immer weniger wert ist?«
    »Weil man im Krieg so
     viel davon gedruckt hat, als wäre es Spielgeld«, antwortete Leo
     und hängte sich den leichten Sommermantel über den Arm. »Und
     jetzt sitzen wir in der Achterbahn und wissen nicht, wohin sie fährt.
     Schönen Abend noch.«
    Mit diesen Worten verließ
     er das Büro.
    Als er draußen auf dem
     Alexanderplatz vor dem Präsidium stand, das im Polizeijargon gern
     »Fabrik« genannt wurde, atmete er erst einmal auf. Es war halb
     sieben und taghell, der längste Tag des Jahres nicht mehr fern. Er
     beschloss, ein Stück Unter den Linden entlangzugehen, bevor er die
     Elektrische nach Moabit nahm.
    Menschen in sommerlicher
     Kleidung schlenderten über den Boulevard. Von einem Zeitungskiosk
     sprang ihn das Wort »Blausäure« an. Leo blieb kurz stehen
     und las die ersten Zeilen.
    »Am gestrigen
     Pfingstsonntag verübten bisher Unbekannte ein Blausäure-Attentat
     auf den Politiker Philipp Scheidemann (SPD). Er soll dem Vernehmen nach
     schwere Verletzungen erlitten haben.«
    Leo Wechsler schüttelte
     den Kopf. Manchmal kam es ihm vor, als wäre die Welt verrückt
     geworden. Als hätte sie acht Jahre zuvor den Verstand verloren und
     ihn nie wiedergefunden. Zuerst der lange Krieg, dann Revolution und Straßenkämpfe,
     Hunger, Unsicherheit und . . . Er zuckte zusammen, als ihn die Erinnerung
     an Dorotheas Tod überfiel. Sie war im Januar 1919 gestorben, die
     Spanische Grippe war schon beinahe abgeflaut. Als hätte die tückische
     Krankheit gewartet, bis Marie geboren war, und Dorothea dann umso heftiger
     gepackt.
    Zuweilen ertappte er sich
     dabei, dass er etwas zu ihr sagen oder sie berühren wollte und erst
     dann merkte, dass sie nicht mehr da war. Vielleicht hatte er sich zu wenig
     Zeit gelassen nach ihrem Tod, alles möglichst schnell vergessen
     wollen. Andererseits erinnerten ihn seine Kinder jeden Tag an Dorothea,
     und er genoss immer wieder die mit Schmerz vermischte Freude, die sie ihm
     bereiteten. Wenn Marie eine kluge Frage stellte oder Georg eine gute Note
     mit nach Hause brachte, dachte Leo, dass er Dorotheas letzte Bitte, gut für
     die Kinder zu sorgen, wohl doch erfüllt hatte.
    Er klopfte auf die
     Zuckerstangen in seiner Manteltasche, blieb einen Augenblick stehen und
     schaute nach oben in die grünen Baumwipfel der Mittelpromenade.
     Eigentlich war es kein Abend zum Nachhausegehen.
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