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Leo Berlin

Leo Berlin

Titel: Leo Berlin
Autoren: Susanne Goga
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ihren Gemütszustand deutete und ihnen
     neue Wege aufzeigte.
    Da klingelte es an der Tür.
     Sartorius warf einen Blick auf seinen Terminkalender, doch Ellen Cramer
     war an diesem Nachmittag als letzte Patientin eingetragen. Seltsam. Er
     legte die Trauben neben die Schale und ging zur Tür.
    Manche Patienten wunderten
     sich, dass er sie persönlich an der Tür empfing, doch ein Hausmädchen
     hätte ihn nur gestört. Erst abends kam eine Frau, die den
     Haushalt besorgte und für ihn kochte, wenn er nicht auswärts aß.
     Auch heute war er zu einer Gesellschaft bei einem wichtigen Patienten
     eingeladen und er ärgerte sich, dass noch jemand kam, da er
     eigentlich ein Bad nehmen und sich in Ruhe umziehen wollte.
    Er führte seinen Gast
     ins Behandlungszimmer. »Ich hatte nicht mit Ihnen gerechnet, es ist
     so lange her. Ein Anruf wäre ratsam gewesen, dann hätte ich mir
     mehr Zeit für Sie nehmen können.«
    »Ich werde Sie nicht
     lange aufhalten, Herr Sartorius.« Die rechte Hand in dem eleganten
     Wildlederhandschuh zitterte leicht.
    Als Leo Wechsler die
     baumbestandene Emdener Straße in Moabit erreichte, in der er seit
     seiner Heirat wohnte, klebte ihm das Hemd am Körper. Die Straßenbahn
     war übervoll gewesen, und er war eine Haltestelle früher
     ausgestiegen, doch der Fußmarsch hatte ihn nicht erfrischt. Es war
     einfach zu warm.
    Er nickte dem Wirt der
     Eckkneipe zu, mit dem er gelegentlich eine Weiße trank, und ging in
     Gedanken versunken weiter. Dann hörte er eine vertraute Stimme,
     nackte Kinderfüße patschten auf ihn zu, und seine Tochter Marie
     sprang so heftig an ihm hoch, dass sie ihn beinahe umgeworfen hätte.
     »Vati, da bist du ja endlich. Tante Ilse hat gesagt, du kaufst mir
     bestimmt ein Eis. Kann ich ein Eis haben, bitte?«
    Er küsste seine Tochter
     auf die Nasenspitze, umschlang mit dem rechten Arm ihre Taille und stellte
     sie auf den Boden. Sie reichte ihm inzwischen fast bis zur Hüfte,
     dabei kam es ihm vor, als hätte er sie erst gestern als winziges Bündel
     im Arm gehalten. »Ich glaube kaum, dass Tante Ilse das gesagt hat.
     Aber, Moment mal, was ist denn das hier in meiner Manteltasche?« Er
     tat geheimnisvoll, bevor er eine von Fräulein Meinelts Zuckerstangen
     hervorzauberte.
    Marie griff mit strahlenden
     Augen nach der Stange, riss das Papier ab und steckte sie zufrieden in den
     Mund. Sie lutschte hingebungsvoll, hielt dann aber inne. »Hast du
     auch eine für Georg?«, fragte sie besorgt.
    Leo wurde es heiß in
     der Brust. Seine Tochter. »Ja, natürlich, Liebes. Wo steckt er
     eigentlich?«
    Marie zeigte die Straße
     hinunter. »Im Hof von Nr. 56. Mit den Jungs vom Hufschmied. Die
     suchen bestimmt wieder Kippen.«
    Leo runzelte die Stirn.
     Manchmal bereute er, dass sie hier wohnen geblieben waren, nur weil er in
     dieser Gegend aufgewachsen war. Sentimentalität, dachte er dann.
     Vielleicht wären seine Kinder woanders besser aufgehoben. Einerseits
     wusste er, dass auch die Straße eine Schule war, in der man Dinge
     lernen konnte, die in keinem Buch standen. Aber Kippen sammeln, Tabak
     herauspulen und verkaufen ging dann doch zu weit.
    »Hol Georg! Wir wollen
     essen«, sagte Leo und blieb vor der Haustür stehen.
    Marie rannte los, bog ein
     paar Häuser weiter in die Toreinfahrt und kam kurz darauf mit ihrem
     achtjährigen Bruder wieder, der nur ein abgetragenes Hemd und kurze
     Hosen anhatte. »Hallo, Vati«, sagte er. Leo fuhr ihm durchs
     Haar.
    »Ich mache keine große
     Sache draus, aber das mit den Kippen lässt du in Zukunft bleiben.«
    Sein Sohn schaute ihn
     schuldbewusst an. »Na ja, wir haben gedacht, wir verdienen uns was
     dazu. Sind doch schlechte Zeiten, Vati.«
    Wie sollte er da hart
     bleiben? Seufzend schloss Leo die Haustür auf und trat in den
     wohltuend kühlen Flur. Das schlichte Treppenhaus war hell und sauber,
     die Holztreppe blank gebohnert, die rot-weißen Fliesen frisch
     gescheuert, und es roch nie nach abgestandenem Essen oder muffiger Wäsche
     wie in den Hinterhäusern. Seltsam, wie eng diese Welten beieinander
     lagen. Er kannte die Hinterhäuser, hatte dort oft genug Ermittlungen
     durchgeführt und war immer wieder betroffen von dem Elend, das in
     ihnen herrschte.
    Dabei gehörte diese
     Gegend im Westen Berlins noch nicht zu den schlimmsten. Er kannte
     Mietskasernen im Norden und Osten, die an wimmelnde Bienenkörbe
     erinnerten, nicht an menschliche Behausungen. Im ersten Stock blieb er vor
     der
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