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Leo Berlin

Leo Berlin

Titel: Leo Berlin
Autoren: Susanne Goga
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Solche Abende sollte man
     lieber in einem Schankgarten verbringen, natürlich nicht allein, ein
     bisschen tanzen, sich den Kopf verdrehen lassen. Einfach drauflosleben.
     Das hatte er schon lange nicht mehr getan.
    Leo schüttelte den Kopf,
     wie um sich aus seinen Träumereien zu reißen, und ging zur nächsten
     Straßenbahnhaltestelle.
    Gabriel Sartorius beugte sich
     über den Tisch. Er starrte die glattgeschliffenen Halbedelsteine an,
     die in einem nur ihm bekannten Muster auf der unbearbeiteten Holzplatte
     angeordnet waren. Er spürte, wie die Kraft der Steine in seine Finger
     strömte, seinen ganzen Körper durchdrang. Sie verlieh ihm übermenschliche
     Energien, mit denen er die Frau auf dem Diwan von ihrem Leiden heilen würde.    
    Ellen Cramer lag ganz still
     auf dem Diwan, die Augen geschlossen, die Arme neben sich ausgestreckt.
     Sie vertraute Gabriel Sartorius blind. Er behandelte sie seit einigen
     Wochen wegen ihrer schweren Migräneanfälle, und sie meinte schon
     eine gewisse Erleichterung zu verspüren. Nachdem sie von einem
     angesehenen Berliner Arzt zum anderen gelaufen war, ohne die quälenden,
     von Sehstörungen und Übelkeit begleiteten Schmerzen loszuwerden,
     hatte sie sich zu diesem ungewöhnlichen Schritt entschlossen.
    Eine Freundin hatte sie auf
     den Wunderheiler aufmerksam gemacht. Zunächst war Ellen skeptisch
     gewesen, und ihr Mann wusste bis heute nichts von diesen Besuchen, da er
     alles ablehnte, dem nicht mit Rechenschieber und Kontenbüchern
     beizukommen war. Doch er musste auch nie davon erfahren. Sie besaß
     selbst genügend Geld, um die Honorare des Heilers zu bezahlen.   
    In Berlin waren Hellseher und
     Hypnotiseure zurzeit groß in Mode. Man munkelte, dass sogar die
     Polizei gelegentlich ihre Dienste in Anspruch nahm, um schwierige Fälle
     aufzuklären.
    Sartorius schien sich
     allerdings nicht als Modedoktor, sondern als Berufener zu empfinden, der
     auserwählt war, die Leiden der Menschheit zu lindern. Sein wallendes,
     schulterlanges Haar und die orientalischen Gewänder, in die er sich
     zu hüllen pflegte, erinnerten an Christus-Gemälde der
     Renaissance. Er sprach mit sanfter Stimme und verströmte eine
     Gelassenheit, die Ellen gleich beim ersten Besuch die Angst genommen
     hatte.
    Jetzt spürte sie seine Hände,
     die beruhigend über ihre Schläfen strichen, über die Stirn
     fuhren, sich sacht auf ihre Augen legten und wieder zu den Schläfen
     wanderten.
    »Ich übertrage
     jetzt die Kraft der Steine auf Sie«, hörte sie ihn sagen.
     »Amethyst gegen die Schmerzen. Karneol für besseres Blut.
     Diamant für klare Erkenntnis. Hämatit für mehr
     Lebendigkeit. Opal für mehr Lebensfreude. Brauner Chalcedon für
     Herzenskraft.«
    Sie überließ sich
     ganz seinen Händen. Seine heilende Kraft umfloss wohltuend ihren
     Kopf. Beinahe wäre sie eingeschlafen, doch dann klopfte er sanft
     gegen ihre Wange. »Sie können die Augen öffnen. Die
     heutige Sitzung ist beendet. Hören Sie auf meinen Rat: Viel Ruhe,
     genießen Sie Ihr Leben. Überlassen Sie sich Ihrem inneren
     Fluss, er wird Sie leiten.«
    Ellen setzte sich auf und
     schaute sich im Zimmer um, als hätte die Sitzung auch ihre Umgebung
     verwandelt. Gedämpftes Licht, schwere Samtvorhänge, an den Wänden
     eine Mischung aus christlichen, hinduistischen und buddhistischen Motiven,
     die sie beim ersten Anblick ein wenig irritiert hatte, inzwischen aber
     vertraut schien. Auf einem kleinen Intarsientisch befanden sich mehrere
     Gegenstände, die zusammengewürfelt wirkten, dem Heiler aber viel
     zu bedeuten schienen: ein Dolch mit wunderschön ziselierter Klinge,
     ein Bild der heiligen Hildegard von Bingen, ein Buddha aus grüner
     Jade.
    Sie legte das Honorar dezent
     neben den Dolch und verabschiedete sich von Sartorius. »Nächste
     Woche um die gleiche Zeit?«, fragte er, als er sie zur Tür
     begleitete.
    »Gern. Vielen Dank.«
    Er schloss die Tür
     hinter ihr, nahm das Geld vom Tischchen und steckte es in die Tasche der
     leichten Hose, die er unter seinem weiten Gewand trug. Dann ließ er
     sich auf dem Diwan nieder und nahm eine Hand voll Weintrauben aus einer
     Obstschale. Nach einer Sitzung brauchte er immer Nahrung, um neue Kraft zu
     gewinnen. Es war anstrengend, den Edelsteinen als Medium zu dienen und
     ihre heilende Wirkung auf seine Patienten zu übertragen, aber seine
     wirksamste Therapie. Manchmal ließ er sie auch Szenarien aus den
     Steinen legen, mit denen er
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