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Leichensee

Leichensee

Titel: Leichensee
Autoren: Peter Mennigen
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anderweitig einen wichtigen Termin. Welchen, hatte sie nicht verraten.
    Die Gesichter der meisten Trauergäste waren bleich. Viele starrten mit leerem Blick zum offenen Grab, in das Amys schmuckloser Eichensarg hinabgelassen wurde. Einige Frauen hielten die Hände vors Gesicht und weinten. Sheriff Pearce und die beiden Deputys waren ebenfalls anwesend. Alle drei schienen sehr angespannt. Zwischen ihnen stand Terry Dodson. Der Junge wirkte völlig in sich zusammengesunken. Nach der Trauerfeier würde er wieder hinter Gitter wandern, um sich irgendwann vor einem Gericht wegen bewaffneten Widerstands gegen die Staatsgewalt und versuchten Totschlags an einer Bundesagentin zu verantworten.
    Cotton schluckte schwer, um den Kloß in seinem Hals loszuwerden. Amy hatte ihm bei ihrer ersten Begegnung prophezeit, dass der Tod sein Wegbegleiter auf dieser Insel sein würde. Aber nicht, dass sie das Opfer wäre.
    Nach der Trauerfeier zerstreuten sich die Menschen. Sie ignorierten den G-Man. Womöglich, weil sie wütend auf ihn waren. Und das nicht mal ganz zu Unrecht. Wer weiß, ob der Serienkiller ohne die Ermittlungen des FBI je wieder gemordet hätte. Zwar wären dann Dutzende Mordfälle ungeklärt geblieben, aber Amy würde noch leben.
    »Es tut mir leid«, flüsterte Cotton, als er alleine an ihrem Grab stand.
    Er schüttelte die Schuldgefühle ab und verließ den Friedhof. Ein Taxi brachte ihn zu seinem Hotel nach Edgartown. An der Rezeption erfuhr er, dass Decker noch nicht da war. Er ging auf sein Zimmer und packte seine Sachen für die Abreise zusammen.
*
    Decker hatte die vergangenen beiden Tage in einem Hospital von Edgartown verbracht. Doktor Millner hatte sie vorsichtshalber dorthin überwiesen, damit man ihre Kopfverletzung behandelte. Gestern Abend war sie entlassen worden.
    Heute Morgen war sie Cotton aus dem Weg gegangen. Während er auf Amys Beerdigung war, hatte sie sich mit einem Taxi zu einem verfallenen Landhaus an der Nordküste von Martha’s Vineyard bringen lassen. Dort stand sie nun am Ende eines langen Feldweges vor einem einstöckigen Gebäude. An dessen verwitterter Holzfassade blätterte die Farbe ab. Die Eingangstür an der Frontseite war mit Brettern vernagelt.
    Decker schritt um das Gebäude herum. Auf der Rückseite schloss sich ein dreißig Yards langer Garten an, der bis zum Meer reichte. Decker hielt inne und atmete tief durch. Die Luft war kalt und roch nach Schnee. Eine Zeit lang stand Decker inmitten des verwilderten Areals und ließ den Blick schweifen. Zwischen stoppeligem braunem Gestrüpp lagen ausgediente Reifen und rostige Gerätschaften.
    In ihrer Kindheit hatte sie an diesem Ort einmal ihre Sommerferien verbracht. Damals war es ein schönes Haus gewesen, umgeben von einem gepflegten Garten mit alten Weiden und Ahornbäumen, in deren Schatten es in den heißen Monaten angenehm kühl war. Im Haus nebenan verlebte ein älterer Junge die Ferien mit seinen Eltern. Er kam öfters vorbei, erledigte für Deckers Mutter kleine Besorgungen oder mähte den Rasen. Er hieß James und war mit vierzehn eigentlich zu alt, um noch mit einem siebenjährigen Mädchen zu spielen. Doch James war in dem Punkt anders als andere Jungs. Mit unendlicher Geduld brachte er Philippa damals Baseball bei. Für sie war er wie ein großer Bruder gewesen. Sie wünschte sich, er wäre jetzt bei ihr. Bei dem Gedanken an ihn spürte sie einen Kloß im Hals.
    Sie gab sich einen Ruck und ging zur Rückseite des Hauses. Die Terrassentür hing halb herausgerissen in den Angeln. Decker öffnete sie und betrat einen großen, leeren Raum, der früher das Wohnzimmer gewesen war. Sie ging weiter in einen Flur und von dort über eine weiß gestrichene Holztreppe in den ersten Stock hinauf. Durch eine Tür gelangte sie in ihr damaliges Zimmer. Es war jetzt kahl und leer, so wie alle anderen Räume. Die ausgeblichene Tapete hing teilweise von den Wänden. Neben einem Fenster mit Blick zum Meer hatte ihr Bett gestanden, das sie mit ihren Stofftieren geteilt hatte.
    Gedankenverloren blickte Decker aus dem Fenster, wie sie es als kleines Mädchen getan hatte, wenn sie auf James wartete. Von hier oben konnte sie auch die schmale Felszunge sehen, die weit ins Meer ragte. Dort hatten sie und James immer abends nach dem Schwimmen gesessen und beobachtet, wie der flammende Sonnenball im Meer versank.
    Gleich am ersten Tag hatte James sie vor den tückischen Strömungen in der Nähe dieser Klippen gewarnt. Dabei plätscherte das Wasser
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