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Leichensee

Leichensee

Titel: Leichensee
Autoren: Peter Mennigen
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völlig ruhig gegen die Steine. Deshalb hatte die kleine Philippa die Warnung auch nicht sonderlich ernst genommen, bis sie am zweiten Tag in einen Strudel geraten war. Ihr war nur noch Zeit für einen Schrei geblieben, bevor die Strömung sie in die Tiefe riss. Die Todesangst lähmte jeden Muskel, als sie zu ersticken drohte. Plötzlich spürte sie einen Arm, der sie umschlang und dem Todesgriff des Wassers entriss. Dann fand sie sich auf dem Rücken im Ufergras liegend wieder und spürte die salzige Nässe von James’ Lippen auf den ihren. Schluchzend vor Erleichterung schlang sie ihm die Arme um den Hals. Damals war sie überzeugt, dass James sie durch einen Kuss ins Leben zurückgeholt hatte. Technisch gesehen war er somit der erste Junge gewesen, der sie geküsst hatte. Diese romantische Vorstellung ließ sie sich auch später nicht dadurch verderben, dass James bei ihr eigentlich nur Mund-zu-Mund-Beatmung zur Wiederbelebung angewandt hatte.
    In Gedanken sah sie vor sich, wie sie beide ausgelassen über die Wiese tollten. Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und verließ das Haus. Draußen im Garten nahm sie ihre Geldbörse aus der Handtasche, öffnete sie und betrachtete das Foto von James. Er hatte es ihr aus dem Irak geschickt, wenige Tage, bevor er als Gunnery Sergeant bei den Navy SEALs während der »Operation Desert Storm« ums Leben gekommen war.
    Behutsam schloss sie die Börse und steckte sie ein. Sie verweilte noch eine Zeit lang in dem verschneiten Garten und lauschte dem Geschrei der Möwen und dem unablässigen Rauschen der Brandung.
    Als die Dämmerung hereinbrach, rief sie mit ihrem Smartphone ein Taxi.
*
    Cotton war gerade mit dem Packen fertig, da klopfte es an die Tür. Decker stand vor seinem Zimmer, ihren Koffer in der Hand.
    »Hallo, Cotton.« Sie wirkte melancholisch. »Alles bereit für die Heimfahrt?«
    Sie verlor kein Wort darüber, wo sie den Tag über gewesen war. Und Cotton fragte sie auch nicht danach.
    »Ja.« Er holte seine Reisetasche. »Ich habe vorhin mit dem FBI telefoniert. Die DNA der Skelette von Chappaquiddick stimmen mit denen der entführten Frauen von Massachusetts überein.«
    Cotton schloss die Zimmertür hinter sich, nahm Decker ihren Koffer ab und trug ihn hinunter in die Rezeption. Nachdem sie ausgecheckt hatten, brachte sie ein Taxi zur Anlegestelle der Autofähre, mit der sie auf die Insel gekommen waren. Auf dem Festland würde sie jemand vom FBI am Hafen von Rhode Island mit dem Wagen abholen.
    Während der Überfahrt standen die Agents auf dem Oberdeck und blickten aufs Meer.
    »Und, wie hat Ihnen der Aufenthalt auf den Inseln gefallen?«, brach Decker irgendwann das Schweigen.
    »Wenn man die Leichen und den Serienmörder weglässt, kann man sie wirklich für einen Besuch empfehlen«, sagte Cotton und grinste. »Apropos Serienmörder. Obwohl Carnahan sich so sehr bemüht hatte, kein Muster zu hinterlassen, hat er uns unfreiwillig doch eins geliefert.«
    »Und das wäre?«
    »Seiner Aussage nach suchte er die verscharrten Toten täglich auf. Dabei zog er sich den Hautausschlag zu, der ihn letztlich überführte.«
    »Er hätte mehr Kontakt mit den Einwohnern von Chappaquiddick pflegen sollen«, meinte Decker. »Dann hätte er vielleicht erfahren, aus welchem Grund der Strand gesperrt war, an dem er seine Leichen vergraben hatte.«
    »Sheriff Pearce und seine beiden Deputys hatten sich dort nur wenige Tage lang wegen der Exhumierung der Leichen aufgehalten. Die kurze Zeitspanne genügte, um ihre Haut mit Ekzemen zu überziehen. Was meinen Sie, welche verheerende Wirkung das Gift auf einen Organismus ausüben muss, der sich ihm jahrelang tagtäglich aussetzt?«
    »Wurde er deswegen bereits ärztlich untersucht?«
    »Oh ja. Als ich von Amys Beerdigung zurück ins Hotel kam, fand ich eine Mail von Sarah Hunter auf meinem Computer. Laut Diagnose der Ärzte sind Carnahans innere Organe und sein zentrales Nervensystem durch das Dioxin dermaßen irreparabel zerstört, dass er höchstens noch ein Jahr zu leben hat. Und will man den Ärzten glauben, wird es kein sehr angenehmes Ende für ihn werden.«
    Decker grübelte einen Moment, bevor sie sagte: »Wie es aussieht, haben ihn seine Opfer aus dem Grab heraus erst entlarvt und dann auch noch tödliche Rache genommen.«
    Cotton lächelte bitter. »Ich glaube, so was nennt man Ironie des Schicksals.«
    ENDE

In der nächsten Folge
    John Saito, ein amerikanischer Geschäftsmann japanischer Herkunft, liegt
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