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Leiche in Sicht

Leiche in Sicht

Titel: Leiche in Sicht
Autoren: Nancy Livingston
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Erinnerung an
sie vorsätzlich ausgelöscht. Das Foto war vergilbt. Zwar waren die Farben noch
zu erkennen — Renée hatte an jenem Sommertag ihr buntgeblümtes Kleid getragen —
, aber es fehlte das Strahlende. Die Spuren seiner Fingerkuppen auf dem
staubigen Rahmen zeugten von seiner Gleichgültigkeit. Vielleicht sollte er doch
ab und zu die Putzfrau heraufkommen lassen. Er fröstelte. Wenn es nur nicht so
verdammt kalt wäre!
    Gestern abend hatte er sich im
Fernsehen eine jener wohlgemeinten Sozialreportagen angesehen. Die älteren
Mitbürger sollten selbst Sorge dafür tragen, sich fit zu halten, lautete der
Tenor; bei sinkendem Sozialprodukt müsse vor allem an das Wohl der Jungen
gedacht werden. Also Sport treiben und sich warm halten! Oder aber abtreten,
und zwar möglichst schnell, denn Krankenhausbetten waren knapp.
    Mr. Pringle holte tief Luft und begann
im Zimmer eine Runde zu drehen. Bei einer scharfen Kehre stieß er mit dem Knie
gegen den Schreibtisch. Der Schmerz war ungeheuerlich. Ihm wurde schwarz vor
Augen. Unten klingelte es an der Tür. Sollten die Frauen aufmachen, ihm war zu
elend, um sich zu bewegen.
    «Post», rief Mrs. Bignell herauf. «Du
hast ein Päckchen bekommen. Fühlt sich an wie ein Katalog.»
    Ächzend mühte er sich die Treppe
hinunter. Zurück in seinem Arbeitszimmer, öffnete er den Umschlag. Ihre
Vermutung stimmte, es war ein Reiseprospekt. Wer ihm den bloß geschickt hatte?!
    Auf einem überwältigend schönen Meer
schaukelte, weiß und silbern vor einem dunklen Blau, eine Yacht. Das Wasser war
so klar, daß der Umriß des Kiels und darunter dunkle Streifen von Seetang zu
erkennen waren. Das Schiff ankerte in einer sichelförmigen Bucht, die von
Felsen, Zypressen und Olivenhainen gesäumt war.
    Auf dem Deck ausgestreckt, lag ein
junges Mädchen und sonnte sich. Während er sie betrachtete, erinnerte er sich,
wie er als kleiner Junge im heißen Sand gelegen und sich die Sonne auf die Haut
hatte brennen lassen, bis es unerträglich geworden war und er sich in das kühle
Wasser der Nordsee geflüchtet hatte. Allerdings war es nur diesen einen Tag
lang heiß gewesen, dachte er und seufzte ein wenig. So war das eben in England.
Die abgebildete Bucht dagegen lag an der griechischen Küste. Im Umschlag befand
sich noch ein Brief. Er war von seinem Neffen Matthew.
    Mein
lieber Onkel,
    ich
hoffe, mein unerwarteter Brief ist kein zu großer Schock für Dich und daß du
noch keine feste Buchung für die Ferien hast, denn ich möchte Dir einen
Vorschlag machen...
    Feste Buchung! Mr. Pringle begann seine
diesbezüglichen Überlegungen gewöhnlich im Juli, aber niemals schon im Februar!
Es erstaunte ihn, daß Matthew ihm schrieb. Er hatte beide Neffen einige Zeit
vor Renées Tod zuletzt gesehen.
    Neugierig geworden, holte er den Karton
mit den Familienfotos hervor und kramte darin herum — Enid und George bei ihrer
Hochzeit. Seine Schwester hätte sich nicht ausgerechnet für Satin entscheiden
sollen, sie sah wie verkleidet aus. Tweed hätte ihr besser gestanden. Mr.
Pringle schüttelte den Kopf, während er daran dachte, daß Enid, die vor ihrer
Eheschließung als Krankenschwester gearbeitet hatte, vermutlich durch ihre
Tätigkeit die Leiden der Menschheit eher vergrößert als verringert hatte. Aber
das lag ja nun schon etliche Jahre zurück. Auf unerklärliche Weise hatte sich
damals zwischen ihr und George, während sie ihm Woche für Woche täglich auf die
Bettpfanne half, eine Art Bindung entwickelt. Sechs Monate nach seiner
Entlassung aus dem Krankenhaus hatten sie geheiratet. Die Fotos von seinem
Neffen Matthew waren ebenfalls alle älteren Datums, und so wandte er sich
wieder dem Brief zu.
    Hast
Du eigentlich jemals daran gedacht, einen Urlaub auf einem Segelschiff zu
verbringen? Wenn ja, so hast Du jetzt dazu Gelegenheit. Meine Freundin Liz und
ich wollen uns diesen Sommer einer Flottille anschließen und die Ionischen
Inseln umsegeln, deshalb der Katalog. Wir haben noch eine freie Koje — Du
brauchst bloß ja zu sagen.
    Ach, du hebe Güte, dachte Mr. Pringle.
    Was
das Segeln angeht, so brauchst Du Dir deshalb keine Sorgen zu machen, das
werden Liz und ich übernehmen. Es kommt uns, ehrlich gesagt, vor allem darauf
an, jemanden zu finden, der die Kosten mit uns teilt. Unsere Freunde und
Bekannten sind alle damit beschäftigt, ihre Hypotheken abzuzahlen, oder aber
sie haben gerade ein Baby bekommen oder beides...
    Hypotheken? Babies? Der Junge mußte
älter sein, als er gedacht
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