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Leiche in Sicht

Leiche in Sicht

Titel: Leiche in Sicht
Autoren: Nancy Livingston
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Kapitel 1
     
    Alles begann an einem ungemütlichen,
naßkalten Tag, einem jener Tage, an denen man seine ganze Energie braucht, um
sich warm zu halten, und die Angestellten froh sind, wenn sie endlich ihre
geheizten Büros erreicht haben. Leute, die wie G.D.H. Pringle sich bereits im
Ruhestand befanden, gingen an einem solchen Tag erst gar nicht vor die Tür.
Bibbernd lauschte er auf das leise Klicken, mit dem sich die Zentralheizung abschaltete,
der Klang der Posaunen beim Jüngsten Gericht würde ihn kaum mit mehr Entsetzen
erfüllen können, als es dieses Geräusch tat. Aber die Heizung den ganzen Tag
laufen zu lassen, konnte er sich einfach nicht leisten.
    Gleich morgens hatte er seine dicke
Wollunterhose angezogen, jetzt knöpfte er sich, zitternd vor Kälte, die Jacke
zu. Da hatten sie den Krieg gewonnen, und dies war das Ergebnis! Gestern hatte
das Gaswerk die Rechnung geschickt. Die monatlichen Abschlagszahlungen waren
wieder erhöht worden. Er hatte vorgehabt, ihr Schreiben zu ignorieren, aber
nun, da die Temperaturen gefallen waren... Mr. Pringle seufzte.
    Zu allem Unglück war auch noch das
Abflußrohr zugefroren. Aus dem unteren Ende ragte ein Eiszapfen hervor, der,
nicht unähnlich dem riesigen Eiskeil, der die Titanic aufgeschlitzt
hatte, zu sieben Achteln unsichtbar war und sich unaufhaltsam ausdehnte. In
beinahe demütigem Ton vertraute er dem Anrufbeantworter seines Klempners eine
Bitte um schnelle Hilfe an.
    Voller Sehnsucht dachte er zwischendurch
an die Stadtbücherei, jenen stets warmen Zufluchtsort für die von der Arbeit
Befreiten. Er hatte einen Stammplatz dort, direkt neben der Heizung. Doch heute
war unverhofft seine Freundin, Mrs. Bignell, bei ihm hereingeschneit. Das laute
Hin- und Herschieben von Möbeln, das von unten zu ihm heraufdrang, brachte ihm
ihre Anwesenheit unmißverständlich wieder in Erinnerung. Mavis Bignell löste
das Problem, sich warm zu halten, indem sie vorzeitig mit dem Frühjahrsputz
begann. Mit seinem Frühjahrshausputz! Sie war Witwe. Zwischen ihr und
Mr. Pringle gab es eine Art stillschweigender Übereinkunft, die Dienstag nacht,
die Wochenenden sowie die Ferien betraf. Ihre Beziehung war von absoluter
Diskretion geprägt: Sie gehörten beide zu einer Generation, der die
Rücksichtnahme auf bestimmte Konventionen schon sehr früh in Fleisch und Blut
übergegangen war. Mavis’ überraschendes Auftauchen heute war eine absolute
Ausnahme.
    Er hatte ihr erklärt, daß heute der Tag
sei, an dem ohnehin seine Putzfrau käme, aber sie hatte gemeint, daß ein
richtiges Großreinemachen für eine Frau allein zuviel sei und sie deshalb mit
anpacken wolle. Und schon hatte sie sich die Schürze umgebunden. Mit einem
Unterton von Panik in der Stimme hatte Mr. Pringle sich erkundigt, ob denn das
alles wirklich notwendig sei. Beispielsweise die Vorhänge, die seien doch
neulich erst gewaschen worden; zu häufiges Waschen mache sie doch nur mürbe.
    «Aber das ist doch schon wieder ein
Jahr her, mein Lieber», hatte Mavis lachend gesagt und sich die Schürze über
ihrem mächtigen Busen glattgestrichen. «Am besten, du gehst jetzt nach oben in
dein Arbeitszimmer. Wenn wir Pause machen, bringen wir dir einen Kaffee hoch.»
Sie hatte ihm strahlend zugelächelt, die personifizierte Wärme, aber ihm war zu
kalt gewesen, um zurückzulächeln. Ergeben hatte er sich verzogen.
    Der Putzfrau war der Zutritt zu dem
Zimmer unter dem Dach, das seine Kunstsammlung beherbergte, verboten.
Dummerweise war sich Mr. Pringle dieser Tatsache nur selten bewußt. Wenn es ihm
wieder einfiel, wedelte er gewöhnlich pflichtschuldig ein wenig mit dem
Staubtuch herum, war jedoch nicht allzu überrascht, daß es hinterher kaum
sauberer aussah. In der Regel vermochten seine Bilder ihn über das schäbige
Aussehen des Raumes hinwegzutrösten; doch nicht so heute: Die niedrigstehende
Februarsonne, die direkt ins Fenster schien, ließ die Flecken auf der Tapete
und die Schmutzstreifen in den Vorhängen allzu deutlich hervortreten.
    Die Tapeten und auch die Vorhänge waren
noch von seiner Frau Renée ausgewählt worden. Das war gleich zu Anfang ihrer
Ehe gewesen. Er nahm ihr Foto vom Schreibtisch. Er brauchte es, um sich wieder
zu erinnern, wie sie ausgesehen hatte. Ihr Bild aus dem Gedächtnis entstehen zu
lassen, gelang ihm mit den Jahren immer seltener, nur allzuoft blieb es
fragmentarisch. Einmal hatte er ihr Gesicht vergessen. Er hatte sich
fürchterlich geschämt und schuldig gefühlt, so als habe er die
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