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Leiche in Sicht

Leiche in Sicht

Titel: Leiche in Sicht
Autoren: Nancy Livingston
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blendendes Aussehen und seine sprühende Vitalität hatten ihm im
ersten Augenblick die Sprache verschlagen. Enids Haare waren eher strohfarben
gewesen, bei ihrem Sohn hatte sich daraus ein warmer Goldton entwickelt. Seine
dunklen Augen waren von dichten Wimpern umrahmt. Merkwürdigerweise wirkte er
jedoch kein bißchen affektiert, sein lebhaftes Wesen ließ diesen Eindruck nicht
zu. Begeistert schüttelte er jetzt Mr. Pringle die Hand.
    «Ich freue mich, dich zu sehen.»
    «Ich mich auch. Wie geht es dir?»
    «Gut. Laß uns machen, daß wir hier
herauskommen.» Er schwang sich die rote Segeltuchtasche über die Schultern.
«Ich hoffe, du hast dir genügend warme Kleidung eingepackt. Laut Wetterbericht
soll es stürmisch werden. Liz wartet im Taxi.» Mr. Pringle folgte seinem Neffen
auf die Straße.
    «Darf ich dir meinen Onkel vorstellen,
Liz. Mr. Pringle. Einstmals die Geißel der Steuersünder, nun zurückverwandelt
in ein menschliches Wesen.»
    «Guten Tag.» Liz trug, genau wie
Matthew, einen dicken Pullover und eine Cordhose, beides nicht sehr vorteilhaft
für ihre ohnehin untersetzte Figur. Obgleich sie identisch gekleidet waren,
ließ sich ein größerer Gegensatz kaum vorstellen, dachte Mr. Pringle: Matthew
von übersprühender Lebendigkeit, das Mädchen dagegen ruhig und zurückhaltend,
beinahe schüchtern. Ihr glattes dunkles Haar und die dichten Augenbrauen gaben
ihr ein energisches Aussehen, doch als sie ihm die Hand reichte, spürte er ein
nervöses Zittern. «Ich heiße Elizabeth Hurst.» Mr. Pringle schätzte
selbstbewußt zur Schau getragene weibliche Rundungen, und so registrierte er
mit Bedauern, daß Elizabeth mit hochgezogenen Schultern dahockte, offenbar
bemüht, ihre Reize so gut wie möglich zu verbergen. Er lächelte ihr aufmunternd
zu. Elizabeth senkte den Blick, anscheinend hatte er sie in Verlegenheit
gebracht.
    Matthew redete fröhlich drauflos. Mr.
Pringle betrachtete verstohlen das Mädchen. Sie schien ungefähr in dem Alter
ihres Freundes zu sein. Ihr Benehmen erstaunte ihn. Er hatte angenommen, die
jungen Mädchen heute seien alle viel selbstbewußter.
    «Und wenn wir am Sonntag abend
zurückkommen», sagte Matthew, «haben wir vor, bei Liz zu Hause zu übernachten.
Es ist ein tolles Haus. Im Garten ist sogar eine Anlegestelle. Montag früh
fahren wir dann wieder zurück nach London. Einverstanden, Onkel?» Mr. Pringle
nickte. Seit er pensioniert war, hatte er keine Eile mehr.
    «Leben Sie bei Ihren Eltern?»
erkundigte er sich, um sie ins Gespräch zu ziehen. Aus unerklärlichen Gründen
herrschte plötzlich verlegenes Schweigen. Elizabeth sah zu Matthew hinüber, ihr
Gesicht war eine ausdruckslose Maske.
    «Das hätte ich dir vorher sagen sollen,
Onkel...» Matthews Ton klang entschuldigend. Das Mädchen hielt die Hände
zwischen die Knie geklemmt und starrte zu Boden. «Meine Eltern sind tot.
Ertrunken. Die Segelwochenenden sollen mir helfen, darüber hinwegzukommen.»
    «Großer Gott — das tut mir wirklich
fürchterlich leid für Sie!» Mr. Pringle war betroffen und irritiert zugleich.
Warum hatte Matthew das in seinem Brief nicht erwähnt? Der Zwei-Tage-Ausflug
auf dem Solent bekam auf einmal eine ganz neue Dimension.
    Sie mußte sein Unbehagen gespürt haben.
«Oh, Sie müssen sich keine Gedanken machen. Das Unglück ist jetzt fast ein Jahr
her, und ich habe das Schlimmste hinter mir. Wirklich.» Sie beugte sich etwas
vor, eifrig bemüht, ihn zu überzeugen. «Ich liebe Boote. Ich bin von klein auf
mit ihnen vertraut. Mein Vater segelte Rennen. Er nahm an Hochseeregatten teil
— dabei haben sie letztes Jahr den Tod gefunden. Sie waren auf einer
Weltumsegelung, als es geschah. Mein Vater war Leonard Hurst.»
    «Ich... verstehe.» Er verstand kein
Wort.
    «Ihr Vater war der
Aufsichtsratsvorsitzende von Freezer International», ergänzte Matthew. Mr.
Pringle erinnerte sich vage, von einem Konzern dieses Namens vor einiger Zeit
einmal gehört zu haben.
    «Sie waren allein im Boot», fuhr
Elizabeth fort, «deshalb weiß keiner, was eigentlich genau passiert ist. Vater
hat immer zu mir gesagt: ‹Triff deine Vorbereitungen so gründlich wie möglich,
alles übrige liegt in Gottes Hand›, und wenn es schiefgehen solle, dann gehe es
schief, und es sei unsinnig, sich darüber Gedanken zu machen.» Mr. Pringle war
diesbezüglich anderer Ansicht.
    «Und es ging alles schief?»
    «Es gab einen Taifun. Völlig
unerwartet.» Sie zuckte die Achseln. «Die Yacht wurde nach einiger
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