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Leibhaftig

Leibhaftig

Titel: Leibhaftig
Autoren: Christa Wolf
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eine andere, dickliche –, mit Herr Chefarzt anredet. Er will wissen, wie es ihr geht. Will er es wirklich wissen? Sie kennt ihn nicht, hat seinen Namen nicht verstanden, könnte sowieso nicht antworten. Ihm scheint aufzufallen, daß ihr ausgedörrter Mund keine Lauteformen kann. Er benetzt ihr Lippen und Mundhöhle mit einem Zellstofftupfer. Da kann sie sagen: Warum geht es mir so schlecht.
    Wider Erwarten nimmt der Chefarzt die Frage ernst, scheint auch nicht überrascht zu sein, fühlt sich nicht belästigt. Weil Ihnen wichtigste Stoffe fehlen, sagt er. Kalium zum Beispiel. Ihr Blutbild hat ergeben, daß Sie überhaupt kein Kalium mehr haben. Magnesium fehlt. Calcium. Eisen. Phosphor. Zink. Alle Mineralien. Wir müssen Sie erst allmählich wieder aufbauen.
    Eine erhellende Auskunft, die ihr lange zu denken gibt. Flüchtig fragt sie sich, wer in ihr denn das Kalium und die anderen »Stoffe« auffressen mag, ein Wort wie Killerzellen geistert ihr durch den Kopf, wirklich wissen will sie es nicht. Der Mann, den die Schwester Chefarzt nennt, scheint ihr nicht mehr sagen zu wollen, als sie wirklich wissen will. Er fängt an, sich Plastehandschuhe überzustreifen. Zwei Paar zerreißen, ein drittes Paar in seiner Größe ist nicht da. Er sagt beherrscht: Holen Sie bitte welche, Schwester Margot, seien Sie so gut. Als das dritte Paar Handschuhe heil bleibt, nimmt er den Verbandmull von der Wunde in ihrem Bauch auf, reinigt die Wunde, verbindet sie mit Hilfe der Schwester. Er fragt nach der Temperatur. Die Schwester reicht ihm mit undurchdringlicher Miene ein Blatt. Er sagt förmlich: Wir müssen abwarten. Ich werde bald wiederkommen.
    Das ist eine Aussage, an die sie sich halten kann. Zwei junge muntere Schwestern bemühen sich, sie zu waschen, und unterhalten sich dabei über die unannehmbaren Verkehrsbedingungen in der Stadt. Irgendwo auf dieser Welt, ganz nah vielleicht, fahren immer noch Straßenbahnen, aber eben viel zu selten, so daß die eine der Schwestern, die kleine Blonde, regelmäßig zu spät zum Frühdienst kommt und von der Oberschwester angeraunzt wird, aber man kann es ihr doch nicht zumuten, extra eine halbe Stunde früher aufzustehen wegen der blöden Straßenbahn.
    Inzwischen münden einige Schläuche aus meinem Bauch in Behälter, die rechts neben meinem Bett stehen. Wie habe ich mich einmal erschrocken, als ich einen Freund so habe liegen sehen. Jetzt erschrecke ich nicht. Es stimmt also nicht, daß einen am meisten das erschreckt, was einen selbst betrifft. Allerdings kann ja alles ganz anders sein, je nachdem, ob man genügend Kalium hat oder nicht. Diese Züge von Gefangenen, die wieder an mir vorbeiziehen, können also Überlebenswillen aufbringen, wenn sie noch genug Kalium haben. Und sie geben sich auf, wenn es ihnen an allen Mineralstoffen fehlt. Muselmänner. Ohne Kalium, das könnte ich dem Chefarzt jetzt sagen, wenn er mir noch einmal den Mund befeuchten würde, was die jungen Schwestern trotz Anweisung vergessen haben, ohne Kalium fühlt man sich wie eine Padde, dievon einer Astgabel im Genick in den Staub gedrückt wird.
    Das Bild ist zutreffend, früher hätte ein zutreffendes Bild sie befriedigt, jetzt ist es ihr gleichgültig. Der Lärm hat wieder eingesetzt. Die Züge, die sich durch eine trostlose Landschaft schleppen, rasseln mit ihren Ketten. Es leuchtet ein, daß jeder durch die Sinne gestraft wird, die seine empfindlichsten sind, das Gehör also, und die Angst vor körperlichem Schmerz, die mich schon als Kind, habe ich dir das eigentlich erzählt, dazu verleitete, Mutund Schmerzproben abzulegen und mir den Ruf von Tapferkeit einbrachte.
    Wie sollen wir wissen, wie ausgedehnt unsere Innenwelt ist, wenn nicht ein besonderer Schlüssel, hohes Fieber zum Beispiel, sie uns erschließt. Immer muß sie zuerst durch diesen niedrigen, schlecht beleuchteten und belüfteten Gang, der ihr jedesmal wieder bekannt vorkommt, aber die Anstrengung, die sie aufbringen müßte, ihn wirklich zu erkennen, kann sie sich nicht abverlangen. Doch diese Gestalten in dunkelgrauen Kombinationen muß sie schon gesehen haben, die ihr jetzt Papiere abfordern, wortlos, durch eine nicht einmal herrische, nur selbstverständliche Geste, die sie in panischen Schrecken versetzt. So muß man sich also auch hier ausweisen, aber was meint sie mit »hier«. Sie findet ein Papier in ihren Taschen, etwas wie eine Pappkarte, deren Unzulänglichkeit in die Augen sticht, dochdie beiden Wärter? Wächter? Kontrolleure?
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