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Leibhaftig

Leibhaftig

Titel: Leibhaftig
Autoren: Christa Wolf
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vorziehn.
    Nach einer Pause sagte sie: Du weißt ja, was das heißt, wenn man nur noch zwischen falschen Alternativen wählen kann.
    Er wußte es. Er riet ihr, die Hoffnung auf Unerfüllbares endlich aufzugeben und damit den unproduktiven Widerstand, der ja anscheinend davon ausging, daß sie noch etwas ändern könne. Das sei kindisch.
    Der neue Mephisto, sagte sie. Verführung nicht mit Unsterblichkeit, sondern mit Stillstand. Du gibst also alles verloren.
    Ja. Jedenfalls für diese Epoche. Sie war ungeeignet für unser Experiment. Wir waren auch ungeeignet, wir ganz besonders. Ihm müsse sie nicht sagen, daß es schade sei. Schade um die Opfer, deren Zahl ja noch steigen werde. Damit verglichen zählten doch die paar Leute, die sie heute ausschließen müßten, gar nicht. Die fallen weich, sagte er, nicht ohneBitterkeit, das garantiere ich dir. Die werden uns noch mal dankbar sein.
    Unversöhnt gingen sie in den Saal zurück.
    Spät am Abend fragt sie Kora Bachmann, ob sie wisse, daß der Schmerz, den man bei einem Verlust empfinde, das Maß sei für die Hoffnung, die man vorher gehabt habe. Kora wußte es nicht. Der Spur der Schmerzen nachgehen, sage ich zu ihr, ungewappnet, das wäre der Mühe wert. Das wäre des Lebens wert.
    Kora ist ganz und gar dieser Meinung. Wir halten uns wieder bei den Händen, die Stadt gleitet unter uns dahin, etwas ist anders als sonst. Kora sagt: Wir dürfen uns nicht umsehen, beide nicht. Ich verstehe, und endlich erkenne ich sie: Sie ist die Botin, welche die noch nicht toten Seelen auf ihrem Gang zum Hades abfängt, sie der Unterwelt entreißt und zurückbringt in das Reich der Lebenden. Sie haben es geschafft, Kora, sage ich, und sie sagt, halb im Scherz: Es war aber auch ein schweres Stück Arbeit mit Ihnen. – Ich weiß, daß sie mich jetzt verlassen muß. Sie gibt meine Hand frei und entschwindet.
    Mit einem wehen Gefühl wache ich auf. Es ist heller Morgen, Janine steht an meinem Bett und verkündet, heute würden wir bis zum Fenster laufen. Acht Schritte, sagt sie, das trauen wir uns jetzt zu. Widerspruch duldet sie nicht. Als wir am Fenster stehen, kommst du mit dem Professor herein.Immer noch Geheimkonferenzen? Aber nein. Sie haben sich rein zufällig vor meiner Zimmertür getroffen.
    Und nun sehen Sie sich das Panorama an, damit Sie endlich wissen, wo Sie die ganze Zeit gewesen sind.
    Das Panorama besteht aus Stadt und Gärten und dem See, der bis zum Horizont reicht und in der Sonne blinkt. Darüber, wie ein See in der Sonne blinkt, gibt es ja ganze Gedichte. In Natur ist es aber auch schön, sagst du. Ich sage, ja, es ist schön.
    Du sollst ja nicht weinen, sagst du.
    Das, sage ich, steht auch in einem Gedicht.
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