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Leibhaftig

Leibhaftig

Titel: Leibhaftig
Autoren: Christa Wolf
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Suppe nichts anfangen kann, vor allem, daß sich an der Stelle, an der die Mediziner ihren Magen vermuten, kein Organ zur Nahrungsaufnahme mehr befindet, es hat sich nicht halten können, da es so lange nicht benötigt wurde. Eine lehrreiche Entdeckung. Das Brot kratzt über Gebühr im Hals, nach drei Bissen legt sie es zurück und erklärt bündig, sie habe keinen Appetit. Das kommt schon, wird sie beschieden, aber essen müsse sie. Am besten Eisenhaltiges, ihre Eisenwerte seien extrem schlecht, kein Wunder nach dem Blutverlust.
    Du bringst schwarzen Johannisbeersaft, selbstgekochte Gemüsesuppen und zart gedünstete Hühnerschenkel. Daß Essen eine Tortur ist, kannst du natürlich nicht glauben, allmählich muß ich auch dem Gutwilligsten auf die Nerven gehen, aber wem soll sie sagen, wie anstrengend es ist, gesund zu werden. Jeder scheint es für selbstverständlich zu halten, daß sie wieder laufen will, und das würde sie ja auch wollen, wenn sie es nicht ganz und gar verlernt hätte und wenn Janine, die braunhäutige Physiotherapeutin, deren afrikanischer Vater durch verwickeltepolitische Umstände vor Jahren von seiner deutschen Frau getrennt wurde, ihr nicht einfach zuviel zumuten würde. Nicht nur auf dem Bettrand zu sitzen, verlangt sie von ihr, sondern aufzustehen, neben dem Bett stehenzubleiben und dann sogar, an ihrem Arm, versteht sich, einen Schritt zu machen, und dann noch einen, was ja bedeutet, diese beiden Schritte auch zurückmachen zu müssen, ehe sie sich endlich wieder, schweißüberströmt und erschöpft, auf das Bett fallen lassen kann. Sie komme jetzt jeden Tag zweimal, verspricht Janine.
    Die Station hat keine frischen Hemden, der Oberarzt verlängert seine Visite und stellt sich an das Fußende ihres Bettes, um ihr einige Dinge zu erklären.
    Das Krankenhaus, erfährt sie, sei ein Spiegelbild der Gesellschaft, und dies sei nun einmal eine Mangelgesellschaft, auch wenn es keiner zugeben würde. Wir haben, sagt der Oberarzt, schlicht und ergreifend nicht die Devisen, um die notwendigsten Dinge einzukaufen, und das führe eben dazu, daß es an Bettwäsche, an Handtüchern und nun also auch schon an Hemden fehle. Von bestimmten Spritzen wolle er gar nicht erst reden, oder von diesen Handschuhen, Marke Eigenbau, das Theater hätte ich ja oft genug miterlebt. Wir sind gehalten zu sparen, sagt der Oberarzt. Ein Produktionsbetrieb muß seinen Produktionsplan erfüllen, wir müssen unseren Einsparungsplan erfüllen. Unser Chef ist zumGlück oben gut angesehen, und wenn’s zu bunt wird, geht er mal hin und haut auf den Tisch.
    Ein wenig hinterlistig, nur um bestimmte Gerüchte zu überprüfen, fragt sie ihn, ob denn ihr angeblich sehr teures Medikament vorrätig gewesen sei.
    Der Oberarzt schnaubt durch die Nase. Sie sollen es ja nicht wissen, sagt er, aber ich hab diese ganze Geheimniskrämerei sowieso satt. Natürlich haben wir das Mittel aus dem Westen besorgen müssen. Und weil es brandeilig war, ist vom Gesundheitsministerium ein Kurier mit Dauervisum per S-Bahn nach Westberlin gefahren, hat das Mittel gekauft, ist eiligst zurück, hat sich in den Zug gesetzt, wir wurden angerufen, ein Kurier von uns stand mit Krankenwagen am Bahnhof und brachte das Mittel mit Tatütata hierher. Und keiner von uns hätte garantieren können, daß es rechtzeitig eintreffen würde. So nervös habe ich den Chef noch nie gesehen.
    Aha, sagt sie. So ist das also gewesen. Aber noch eine Frage: Hätte jeder, der es brauchte, dieses Medikament bekommen?
    Doch, sagt der Oberarzt. Dafür könne er sich verbürgen. Wenn wirklich Not am Mann sei, würden Devisen aus einem Sonderfonds lockergemacht. Das müssen wir an anderer Stelle wieder einsparen. Und wissen Sie, was dabei rauskommt? Wir alle werden Weltmeister im Improvisieren. Die Kollegen,die hier weggehen, erregen drüben Aufsehen mit ihrer Kunst, aus Dreck Gold zu machen.
    Wie die arme Müllerstochter im Märchen, sagt sie. Dann fragt sie ihn, warum er eigentlich nicht auch einen Garten haben wolle, wie sein Chef, der beinahe genauso bekannt als Rosenzüchter sei wie als Chirurg. Der Oberarzt ist noch bei der armen Müllerstochter und versteht die Frage nicht. Er kann ihr kaum glauben, daß sie ihn vor langer langer Zeit, vor der allerersten Operation, habe sagen hören: Einen Garten wolle er auf gar keinen Fall. Daran erinnert er sich natürlich nicht, vor einer Operation redeten sie belangloses Zeug, um sich abzulenken, während ihr Nervensystem schon auf strenge
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