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Leibhaftig

Leibhaftig

Titel: Leibhaftig
Autoren: Christa Wolf
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beobachtet. Ich habe Ihnen zugehört, manchmal auch, wenn Sie schliefen. Sie waren in merkwürdigen Gefilden unterwegs.
    Mit Ihnen, Kora! Aber das müssen Sie nicht wissen. Sie haben sich vorgenommen, mich zurückzuholen?
    Falls Sie noch nicht wirklich angekommen sind.
    Bin ich angekommen? fragt sie sich, als Kora gegangen ist. Will ich ankommen? Die Speise der Lebenden nicht nur zu mir nehmen, sie auch schmackhaft finden? Mißtrauisch und kritisch beobachtest du, wie mühsam ich den schönen lockeren Grießbrei niederzwinge, den du mir gebracht hast. Löffel um Löffel. Kinderbrei. Sag bloß nicht wieder, niemand kann solchen Grießbrei wie deine Großmutter kochen.
    Meiner Großmutter wäre nie eingefallen, daß das Leben sie abstoßen könnte. Oder der Tod sie verlocken. Sie war zu arm und hatte drei Kinder. Hast du übrigens über Urban nachgedacht.
    Nein, sagst du. Über Urban und seinesgleichen habest du vor Jahren aufgehört nachzudenken, und das würdest du mir auch empfehlen. Es bringe nichts Neues.
    Vielleicht doch. Zum Beispiel, an welchem Zipfelchen Urban und ich zusammenhängen. Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, daß der Tod auch das sicherste Versteck sein kann. Daß einen nicht Verzweiflung, sondern Feigheit dahin treibt.
    Wen? Urban?
    Zum Beispiel Urban. Daß der einfach den Mut nicht hatte, weiterzuleben. Wäre mühsam gewesen, oder?
    Aber sein Zynismus hat ihn doch immer gerettet.
    Lange Zeit, ja. Nicht immer, wie man sieht. Das Quentchen Hoffnung, das noch in ihm war, das war seine schwache Stelle, sein Lindenblatt, wenn du verstehst, was ich meine. Da konnte der Speer eindringen. Er hat versäumt, rechtzeitig jede Hoffnung abzutöten. Das hat ihn umgebracht.
    Ihr hat er es ja einmal dringend empfohlen. Hat sich selber nicht dran gehalten, sich anscheinend doch nicht daran halten können. Hoffnung als Schwachstelle. Hatte er es nicht genau so ausgedrückt? Und war das nicht beim letzten Mal, als sie sich überhaupt gesehen hatten? In jenem Wandelgang vor dem Konferenzraum. In der Pause, in der ein üppiges Büfett sie einstimmen sollte auf den zweiten, den entscheidenden Teil der Versammlung, deren Ablauf, das war klargeworden, Urban dirigierte, eine Art Bewährungsprobe, der er sich unterziehen mußte. Es war nach der wüsten Rede, die er gehalten hatte. Als selbst der Gang zur Toilette von unauffälligen jungen Männern beobachtet wurde. Sie hätte wütend sein sollen, leider war sie traurig. Unvermutet stand sie Urban gegenüber. Sie machte eine Bemerkung über die Bewacher, da konnte er nur die Achseln zucken: Nicht mein Revier.– Ihr wollt uns mit Lachsbrötchen kaufen, hatte sie gesagt, er verzog die Mundwinkel: Einige von euch haben einen höheren Preis. Sie hatte gefragt, ob er seine Rede selbst geschrieben habe, und er antwortete schlicht: Nein. Jedenfalls nicht alle Passagen. – Sie fragte: Muß das sein? – Er sagte: Ja. Das muß sein. – Sie sagte: Ihr verlegt euch darauf, uns einzuschüchtern. Und er: Wenn wir dadurch zehn Gegenstimmen weniger bekommen, lohnt es sich. – Du findest es in Ordnung, die Kollegen, die, wie du weißt, nur ihr Recht verlangen, zu verurteilen und auszuschließen. – Das habe ich nicht gesagt, sagte Urban.
    Es stellte sich heraus, daß er eigentlich nichts »in Ordnung« fand, oder ob sie ihn für so dumm halte. Nur, wenn die Autorität der obersten Spitze auf dem Spiel stand, dann müsse man alles tun, damit eben wirklich in ihrem Sinne entschieden werde. Da lasse er sich in seine Reden reinschreiben, was immer sie für richtig hielten.
    Aber ich zum Beispiel werde dagegen stimmen, sagte sie. Und ein paar andere auch. – Urban, schmallippig: Das wisse er, und er bedaure es. Sie kämen sich wahrscheinlich sehr mutig vor, in Wirklichkeit dächten sie einfach nicht weit genug. Wenn diese Versammlung trotz aller Befürchtungen diszipliniert und im Sinne der Vorgaben verlaufen würde, dann hätten sie bei der Führung etwas gut, dann könnten sie sich doch auf einem anderen Feld wiedereinen Schritt weiter vorwagen. Das sei ja nun leider nicht zu erwarten, er versuche zu retten, was noch zu retten sei.
    Was ist denn noch zu retten, fragte sie.
    Urban sagte: Die Fassade. Wenigstens noch für eine gewisse Zeit.
    Sie sagte: So steht es, deiner Meinung nach?, und er erwiderte: Ja. – Sie: Und wozu brauchst du dann noch die Fassade? – Er sagte: Um den geordneten Rückzug zu decken. Oder, fragte er, würde sie den ungeordneten Zusammenbruch
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