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Leibhaftig

Leibhaftig

Titel: Leibhaftig
Autoren: Christa Wolf
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winken sie durch, und sie hätten sich auch anders nicht verständlich machen können, wegen dieses Höllenlärms hier unten, der ja nicht abreißt.
    Daß sie unten ist, daran gibt es ja keinen Zweifel. Die Stahltüren öffnen sich ganz leicht, lautlos gleitend in ihren Schienen und Scharnieren, wenn ein Wort wie »lautlos« in diesem Getöse irgendeinen Sinn hätte. Ganz leicht wandert oder gleitet sie durch eine Vielzahl großflächiger, ineinander übergehender, ineinander verschachtelter Räume, und sie versteht nun auch, warum man von Schattenreich spricht, die Unterwelt als Schattenreich, und warum man die eben Verstorbenen Schatten nennt, nur soll man aufhören, sie zu bedauern. Sie sehen und hören, doch fühlen sie nichts, jedenfalls fühlt der Transitär nichts, der losgeschickt wurde, sich zu ihnen zu gesellen, das kann ich bezeugen.
    Das weißt du ja wohl, daß wir uns einmal in diesen Gängen begegnet sind, Urban und ich, in jenem irdischen Schattenreich, das der jenseitigen Unterwelt nicht gleicht, doch ähnelt, der irdische Transitgang, der gekachelt ist wie eine Badeanstalt. Oder wie ein Schlachthaus. Getarnt als Grenzübergangsstelle – » GÜ st« Bahnhof Friedrichstraße. Urban war mit der gleichen S-Bahn gekommen wie ich – Zoologischer Garten – Bahnhof Friedrichstraße –, der gleiche Menschenstrom hatte ihn die Treppen hinunter- und diesen unterirdischen Gangentlanggespült, bis zu jener Stelle, wo der Strom sich teilte, in Reisende, die in den Staat einreisen wollten, dessen Bürger wir sind und dessen Territorium hier begann, und in diejenigen, die mit normalen Reiseerlaubnissen in diesen Staat zurückkamen, viele ältere Leute darunter. Schließlich das schmale Rinnsal von Diplomaten und Dienstreisenden, zu denen wir beide gehörten, Urban und ich. Wir durften oder mußten also geradeaus weitergehen, und da erst erkannte ich ihn, dicht vor mir, es war zu spät, mich zurückfallen zu lassen, seinem steifen Rücken merkte ich an, daß auch er mich gesehen hatte. So stießen wir denn vor der Paßkontrolle buchstäblich aufeinander, heuchelten freudige Überraschung über den Zufall, der uns – nach so vielen Jahren!, sofort begannen wir zu rechnen – ausgerechnet hier zusammenführen mußte. Man begegnet sich ungern gerade dort. Man gewährt einem anderen nicht gerne Einblick in die Dokumente, die einen zum vorübergehenden Wechsel von der einen in die andere Welt berechtigen. Man verfällt sofort dem Zwang, sich voreinander zu rechtfertigen, sich hastig zu erzählen, welch dringliche Geschäfte, Arbeiten oder Aufträge man »drüben« zu erledigen gehabt hat, man lächelt ironisch dabei und beobachtet aus den Augenwinkeln, wie das »Reisedokument« von dem einen der Uniformierten, nachdem er es dem Transitreisenden abgenommen und ihn mit seinem Paßbild verglichen hat,durch den Schlitz in das Kontrollhäuschen geschoben wird, in dem, sorgfältig gegen Blicke abgeschirmt, der andere Uniformierte sitzt und die Papiere irgendwelchen Prozeduren unterzieht, die den draußen Wartenden verborgen bleiben, nur daß man aus der Dauer des Verbleibs der Dokumente in dem Häuschen allenfalls auf die eigene Unverfänglichkeit oder, wenn man lange warten muß, auf die eigene Verdächtigkeit bei der zuständigen Dienststelle schließen kann.
    Mein Freund Urban gehörte zur ersten Kategorie. Er hatte gerade angefangen, mit einer gehörigen Portion Selbstironie von der Veranstaltung im anderen Teil der Stadt zu erzählen, auf der er, regulär eingeladen, darauf legte er Wert, über die neuesten kulturellen Ereignisse in unserem Land hatte Auskunft geben müssen, da hörten wir schon jenseits des undurchsichtigen Fensterchens das Niedersausen des Stempels, im Schlitz unterhalb des Fensters erschien sein Dokument, wurde von dem ersten Uniformierten entgegengenommen und, nachdem der noch einmal das Paßfoto mit seinem Urbild verglichen hatte, an Urban weitergereicht. Nicht ganz ohne Stolz nahm er es entgegen: Auf diese Computer könne man sich doch wenigstens verlassen!, und hat dann kollegialerweise eine beträchtliche Zeit auf sie gewartet, nach der Zollkontrolle, die er auch ohne Zeitverlust passierte. Ja, auf die Computer konnte man sich verlassen, ihnen war offenbardie Weisung an den Uniformierten im Grenzerhäuschen eingespeichert, sie beim Grenzübertritt aufzuhalten, sich sogar telefonisch bei einer höheren Stelle zu versichern, daß ihr Passierschein nicht zu beanstanden war, das sagte sie zu
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