Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Simulator

Der Simulator

Titel: Der Simulator
Autoren: Marco Lalli
Vom Netzwerk:
1 . Kapitel
    Das Sinex-Hochhaus stand im Heidelberger Stadtteil Ziegelhausen. Von seiner Dachterrasse im dreißigsten Stockwerk konnte man bis in die Rheinebene sehen. Und darüber hinaus, dorthin, wo die Sonne dunkelrot auf die Kämme der Haardt stieß und in wenigen Minuten versunken wäre. Ein imposantes Hochhaus, ein gläserner Sporn, der umso höher und gewagter erschien, je mehr man sich der niedrigen Bebauung ringsum bewusst wurde: Ein-und Zweifamilienhäuser mit den blauen Vierecken ihrer Pools, niedrige Mietshäuser im dörflichen Kern, schmale Landstraßen, die sich bergan schlängelten und in der Abenddämmerung zu verschwimmen begannen. Und doch war es für den alten Kowalski sicher kein Problem gewesen, eine Genehmigung für einen Bau dieser Größe zu erhalten.
    Obwohl es mein Fest war, so eine Art Einstand, vermutete ich, ließ Dominik Kowalski keinen Zweifel daran aufkommen, dass es um ihn selbst ging, um die Sinex AG, um die Zukunft dieses großartigen Weltkonzerns. Und so war jede Menge Presse vertreten, lokales und überregionales Fernsehen und auch ein Fotograf der Rhein-Neckar-Zeitung, um das obligatorische Foto für die nächste Ausgabe aufzunehmen.
    Sinex stand für Sozialwissenschaftliches Institut für Experimentation, ein Wortungetüm, das Kowalski schon in frühen Jahren leid gewesen war und mit Sinex abgekürzt hatte.
    Das Fest war fabelhaft. Sorgsam ausgewählte Künstler, die den Duft der großen weiten Welt nach Heidelberg bringen sollten, eine Vorspiegelung von Internationalität und Weltläufigkeit, als öffne sich die Terrasse nicht auf menschenleere Wälder und Äcker, sondern auf die Skyline von Manhattan, Shanghai oder wenigstens Frankfurt. Ein ehrgeiziges Ziel, ein würdiges Ziel erfahrener Illusionisten, der besten.
    Und doch waren es nicht diese Künstler, die das erstaunlichste Ereignis dieses Abends zustande brachten. Es verschwand ein Mensch, spurlos und unter meinen eigenen Augen. Aber was fast noch erstaunlicher war: Ich war der Einzige, der es bemerkte.
    Die schwarze Sängerin mit ihren übervollen Lippen legte das Mikrofon zur Seite, verneigte sich tief im begeisterten Applaus, und eine spärlich bekleidete Tänzerin betrat die kreisrunde Fläche in der Mitte der Terrasse, einer Terrasse, die fast das gesamte oberste Stockwerk einnahm und auf der Spitze des Hochhauses zu balancieren schien, so freischwebend wie der Hubschrauberlandeplatz auf dem altehrwürdigen Burj Al-Arab.
    Es war eine Bauchtänzerin, und sie ließ die Hüften kreisen, den Unterleib vor-und zurückschnellen, während orientalische Musik aus den versteckten Lautsprechern ringsum perlte. Sie war schlank, fast dürr, eine Figur, die dem westlichen Geschmack Tribut zollte, ganz so wie es in den Staaten der Nordafrikanischen Union gerade modern zu sein schien. Sie ging auf den einen oder anderen der männlichen Gäste zu, spielte mit ihm, ließ ihren Körper in wenigen Zentimetern Abstand von dem ihren wackeln, ihre kleinen Brüste, ihr durchtrainiertes Gesäß, und ich zog mich zurück, um nicht eines ihrer nächsten Opfer zu werden.
    Ich setzte mich an die Bar und ließ mir vom durchgestylten Boy der Catering-Firma einen Caipirinha machen. Die Sonne war untergegangen, der Himmel färbte sich dunkelrot, violett, begann im äußersten Norden und Süden bereits schwarz zu werden.
    Kowalski folgte mir an die Bar, blieb aber stehen. »Einen Scotch mit Wasser, bitte. Viel Wasser.« Er sah mich eine Weile schweigend von der Seite an, immer noch stehend, einen Fuß auf der Querleiste eines freien Hockers. »Gefällt es Ihnen?«
    »Es ist fabelhaft«, antwortete ich, ohne ihn anzusehen.
    Er lachte kurz und trocken auf. »Wissen Sie, was ich an Ihnen mag?« Ich schüttelte langsam den Kopf. »Dass man Sie nicht kaufen kann.«
    »Aber Sie haben mich doch gekauft!«
    »Ja? Dann waren Sie ziemlich günstig.« Der Boy brachte sein Glas, und Kowalski nippte ein paar Mal mit spitzen Lippen daran. »Blinzle war anders. Er war besessen von seiner Idee, genauso wie Sie, aber er war ein knallharter Verhandler. Es ging immer um jeden Euro, um die dritte Stelle hinter einem Prozentpunkt.«
    »Es war seine Idee, er hat alles entwickelt. Die Rechnerarchitektur, die Software, den Algorithmus, die Sinex-Milieus.«
    »Und jetzt ist er tot.« Kowalski sah in sein Glas, hob und drehte es im schwachen Licht. »Ach, Ideen... Ideen gibt es viele. Jeder hat gute Ideen. Sie, ich, Blinzle. Wissen Sie, worauf es ankommt? Geld! Macht! Und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher